Telefonlisten wurden erstellt, um mit Einspringern die Premiere zu retten. War alles nicht nötig. Viel Beifall nach der Premiere am Samstag im Chemnitzer Opernhaus. Irmin hatte seine Druiden mal wieder nicht im Stich gelassen.
Irmin ist halt ein Sachsengott. Verehrt von den Sachsen schon, als es das heutige Sachsen noch gar nicht gab, und die Sachsen in Ostwestfalen lebten. Im Druidenland von Asterix und Obelix hat Irmin eigentlich nichts verloren. Was den italienischen Librettisten Felice Romani nicht hinderte, ihn ins Land der Kelten zu verfrachten, die – kennen wir – gegen die römischen Besatzer kämpften und tricksten („Die spinnen, die Römer“). Was nun wiederum Regisseur Christopher Alden nicht hinderte, die Geschichte irgendwohin in eine holzreiche, aber armbäuerliche Gegend der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verlegen, wo Städter in Frack und Zylinder den Zehnten von den armen ländlichen Untertanen kassieren. In Deutschland oder sonst wo in Europa. Nur Eichen und Misteln muss es geben.
Irminsul statt Hinkelstein
Bühnenbildner (die Bühne wurde in Chemnitz gebaut, die Kostüme in Leeds den Akteuren auf den Leib geschneidert, was kurzfristig die Kostümabteilung in Chemnitz zur Änderungsschneiderei mutieren ließ) Charles James Edwards setzte noch einen drauf. Irmin brachte ihn auf den Gedanken, den Hinkelstein durch Irminsul zu ersetzen. Irminsul ist im Prinzip die Säule des Irmin – ein Baumstamm (deutsche Eiche natürlich), der den Himmel des Irmin stützt und gleichzeitig Heim des (kennen wir Christen auch) allgegenwärtigen Gottes ist. Weil von des Christengotts Stellvertreter auf Erden Karl der Große 800 zum Kaiser gekrönt werden wollte, ließ er von seinen Franken die (heidnische) Irminsäule der Sachsen in Ostwestfalen 772 zerstören.
Der Angelsachse Edwards ließ die sächsische Eichensäule neu bauen und hängt sie in die überdimensional karge Holzhütte der Bühnenwände (und- decke). Je nach Irminferne- oder –nähe der erotischen Pflichtverletzungen der eigentlich zölibatär keusch leben müssenden Irmin-Priesterinnen (was einen der beliebtesten Sonntag-Morgen-Operntitel zeugte: „Casta diva“) deutet die Irminsäuleneiche zum Himmel oder hängt drohend über dem gottverlassenen Menschengewürm.
Fehlt noch die immer dräuende, stets geschliffene Axt – toddrohend, aber schließlich nutzlos in der Wand steckend. Am Schluss tötet das Feuer, das (mit Verlaub) ein bisschen spärlich ausfällt. Bei der Norma-Aufführung in Salzburg letztes Jahr dachte man eher daran, dass die Regie das ganze Festspielhaus abfackeln wolle…
A propos: In Salzburg wurde die Geschichte ins Gallierland des 2. Weltkriegs verlegt. Die guten Gallier gehören zur Résistance, die bösen Römer sind SS-Leute und Wehrmacht. Es gibt tausend Möglichkeiten, „Norma“ zu „aktualisieren“. Kaum eine wurde ausgelassen auf den Bühnen der Welt. Die Alternative (ebenfalls mit ungezählten Varianten) ist, das Drama auf den inneren Konflikt der Protagonistin zu fokussieren. Das geht oft schief, weil Bellini nicht nur Norma sinnstiftendes Belcanto in die Kehle komponiert hat, sondern auch den anderen Akteuren.
Prima la musica
Hier erschließt sich, warum Christopher Aldens Inszenierung so gut ist. Er verlässt sich völlig auf die Musik. Andere Regisseure (auch Enrico Lübbe in Dortmund) werden kritisiert, weil sie das Ratzfatz-Auf- und –Abtreten der Chormassen angeblich nicht bewältigen. Wo hat man bei „Norma“ schon einen Chor gesehen, der an den Wänden aufgereiht, standbildhaft (statuarisch geradezu) die Funktion des allwissenden und moralisierenden Chors der antiken Tragödie eines Europides oder Sophokles übernimmt, gleichsam (hier) das Pendant zur eichernen Irminsäule wird und desto mehr beeindruckt, wenn er was „tut“?
Hier liegt natürlich auch das Risiko Aldens. Nur ein Beispiel. Norma, im Konflikt, will ihre Kinder, die sie über alles liebt, zu Beginn des zweiten Aktes töten, um Schlimmeres (Sklaven ihres hurenden Vaters zu werden) zu verhindern. Norma, die letztlich für ihre Kinder das Leben opfert, rührt ihre Kinder nie an. Umarmt sie nicht. Drückt sie nicht. Einmal lässt Alden sie auf zehn Zentimeter rankommen und dann vor dem Streicheln zurückzucken. Er spürt, dass in seiner Inszenierung Mutterliebe-Bilder (nicht –Arien) fehlen…
Bellini hat seine Opern, wie damals üblich, seinen Sängerinnen, in diesem Fall Giuditta Pasta, in den Kehlkopf geschrieben. Der Erfolg der Primadonna bestimmte wesentlicher über den Erfolg einer Oper als der Plot, die Story. Jede Aufführung später mit der Norma-Göttin Callas wurde ein Erfolg. Egal, was der Regisseur sich gedacht hat.
Die Norma sang in Leeds wie in Chemnitz die Niederländerin Annemarie Kremer. Sie zählt zu Recht zu den gefragten Sopranistinnen der Welt. Eine Sängerin, die den Intendanten bittet, vor den Vorhang zu treten und ihre nicht hundertprozentig gesunden Stimmbänder zu entschuldigen, kriegt allein dadurch einen zusätzlichen Bonus. Eine eins mit Stern sozusagen. Es war so, und es sei ihr gutgeschrieben. Bellinis Pasta hatte, wie wir heute wissen, eher eine dunkler gefärbte Sopranstimme. Norma ist die Chefin, die Ältere, die Erfahrenere, die gottvertretende Priesterin. Außerdem hat Bellini zu einer Zeit komponiert, da die Instrumente einige Hertz tiefer gestimmt waren. Die Pasta musste also nicht so hoch hinaus. Annemarie Kremer schaffte die Höhen gut, vielleicht nicht ganz so perfekt wie bei gesunden Stimmbändern. Den dramatischen Sopran, wie ihn Bellini zusätzlich verlangt, hat sie allemal drauf. Die Koloraturen perlten – je mittiger desto besser.
Timothy Richards als Pollione war eine ausgesprochen positive Überraschung. Sein warmer Tenor sprach Liebe, Richards gab ihm die Bellinikomponierten Ecken, wo er ungerecht ist und böse der Mutter seiner Kinder gegenüber. Ein toller Pollione, den wir da kennenlernen dürfen.
Die beste Penttinen
Von Aura und Auftreten her würde Tiina Penttinen besser für die Norma-Rolle passen. Als die junge Irmin-Priester-Novizin Adalgisa, dieses unreife Mädchen, das dem verführerischen Schleimer Pollione auf den Leim geht, ist sie fast zu „erwachsen“. Von der Stimme her kam Tiina Penttinen ungemein präsent über die Rampe – im Noch-Freundinnen-Duett zu Beginn war sie die Stabilere. Es ist unter den vielen tollen Rollen, die die Finnin drauf hat, eine ihrer besten, die sie je in Chemnitz präsentiert hat.
Wenn wir schon beim eigenen Ensemble sind: Einen großartig wuchtigen Eindruck hinterieß einmal mehr Kouta Räsänen, auch wenn die Rolle sängerisch nur klein ist. Wer weiß… Hätte Alden schon in Leeds den Chemnitzer Bass gehabt, er hätte der Vater-Figur wahrscheinlich auch optisch noch mehr Gewicht gegeben. Der Vater sitzt doch recht viel rum als Wächter der und des „Guten“. Hätte der Vater die Kinder nicht übernommen, wäre Norma nicht in den Tod gegangen (und die ganze Oper nichts geworden). Millionen Fußballtrainer vor dem Fernseher wissen auch immer alles besser als der Bundestrainer. Aber diese Szene hätte ich trotzdem nicht so in die Ecke gerückt. Wenn Norma zu Beginn des Aktes die Kinder töten will und deren Leben dann zum Mittelpunkt ihres Tuns macht, um zum Opfer „frei“ zu sein, dann sagt diese Szene: Alles wird gut. Das Opfer ist nicht sinnlos.
„Guerra, guerra“ – heimliche Hymne gegen Unterdrücker
Und nochmal zum eigenen Ensemble: der von Simon Zimmermann einstudierte Chor war schlichtweg klasse. Vor ein paar Tagen noch in der Kälte beim Friedenstag durch quäkende Lautsprecher und Klimperklavierbegleitung gequält (aber gut, dass er dabei war und sich gegen Rechts bekannte…), machte deutlich, warum für die Italiener nicht nur „Va pensiero“ (Verdi, Nabucco) eine Art Nationalhymne ist, sondern auch „Guerra, guerra“ aus Bellinis Oper „Norma“, die entstanden ist zu einer Zeit, als die Österreicher die Römer waren und die lombardischen Gallier noch nicht am Monte Grappa das Joch der Unterdrücker abgeschüttelt hatten.
Der Mann des Abends für mich aber war Felix Bender. Der junge Chemnitzer Kapellmeister musste am Abend der Premiere punktgenau das Chaos der krankheitsbedingten Probenausfälle ungeschehen machen. Eine Top-Leistung des gesamten Ensembles, der fremden und der eigenen Sänger, und der Philharmonie abliefern. Nix nur mit „The show must go on“. Klar, dass es ab und an geknirscht hat. Felix Bender hatte buchstäblich alle Hände voll zu tun, um die selbst von Richard Wagner hoch geschätzte Bellini-Partitur zum spannenden Klingen zu bringen. Und das ist schon unter normalen Umständen nicht gerade ein kleiner Spaziergang durch den Park. Belcanto rauf und runter – Bellini setzt seine Durs und Molls, seine Triolen und Querschläger punktgenau bezogen auf die Stimmungen auf der Bühne.
Gut, dass sich Bender auf die Robert-Schumann-Philharmonie absolut verlassen kann. Und schöne Geste auch, dass er (dankbar) seine Beifall-Rose hinunterwarf zur Konzertmeisterin Heidrun Sandmann. (Andreas Weber wird’s verkraften, dass er auf fast gefährliche Weise zum Rosenkavalier wurde, als die Rose in seinem Haar landete).
Musikalisch hat Bender mit seinen in den Belcanto-Teilen oft sehr langsamen Tempi den eher auf Atmosphäre als Action abzielenden Regisseur fabelhaft ergänzt – oder war es umgekehrt? Hat die Bühne die Töne „bebildert“? Wie schön darf gesungene Verzweiflung schwelgen?
„Wenn ich Hänschen Rosenthal wäre, würde ich hochspringen und rufen: ‚Das war Spitze‘“, sagte eine Dame beim Rausgehen. Das Chemnitzer Publikum war begeistert. Langer Beifall.
Die nächsten Vorstellungen: 16. und 28. März, 27. April, 9. Mai