Früher wurden Schuberts Sinfonien auch schon anders nummeriert: die große C-Dur als 9., die Unvollendete als 8. Aber eine 7. gibt’s nicht, also hat man die 9. zur 7. gemacht, weil sie vor der „Unvollendeten“ entstanden sei. Heute zählen die Musikwissenschaftler wieder anders: die „Unvollendete“ als 7., die Große C-Dur-Sinfonie als 8.
Aber die „Neun“ schwingt immer mit, bei Schuberts großer Sinfonie, auch wenn sie jetzt die 8. ist. Und auch Beermann kam bei seiner launigen Einführung nicht daran vorbei: Kann man nach der monumentalen 9. Sinfonie von Beethoven noch Sinfonien schreiben? Schubert, der sich lang vor Beethoven gedrückt hatte, nahm schließlich sein Herz in die Hand. Und beantwortete die Frage mit einer Sinfonie, die damals ganz neuartig war, und Maßstäbe setzte. „New look“ in der Musik, nahm Beermann Anleihen beim Fußball-Reporter-Speech.
Der GMD (Markuskirche, am ersten Abend: „wir sind am Ende dieser Schubert-Woche alle klüger“) bekannte, dass er vor diesem Zyklus nie auf die Idee gekommen wäre, Schuberts 1. Sinfonie zu dirigieren, aber auch, dass er ein ganz neues Bild des Komponisten gewonnen habe. Das malte er denn auch den Zuhörern mit der Robert-Schumann-Philharmonie in Augen, Ohren und Gehirnwindungen der begeistert mitgehenden Zuhörer.
Beermann veränderte nicht viel an dem gewohnten Schubert-(Hör-)Bild. Aber was er änderte, war, hoppla, schlüssig. Zwei Beispiele:
Hunderte von Wissenschaftlern haben sich die Köpfe darüber zerbrochen, ob die „Unvollendete“ eigentlich hätte vollendet werden sollen und Schubert aus irgendwelchen Gründen nur nicht dazu kam. Oder zu ergänzen wäre. Etwa durch die beiden letzten Sätze des Streichquartetts „Der Tod und das Mädchen“, die wir im Wasserschloss vom Mejo-Quartett gehört haben. Verschont uns vor den Vervollständigkeitsdrechslern! “G’scheit“, hätte der Weaner Schubert, vielleicht gesagt, was der Beermann sich da ausgedacht hat.
Beermann dachte nicht an vier, auch nicht an zwei Sätze – er packte die beiden vorhandenen zu einem zusammen. Was schon durch die Tempo-Bezeichnungen nahe liegt: Der Anfang ein gemäßigtes, also langsameres Allegro („moderato“), der Fortgang ein „bewegtes“ (also schnelleres) Andante (con moto). Nicht weit auseinander, diese Tempi. Und zusammen (getrennt nur durch eine kurze Atemholen-Generalpause) hören wir plötzlich eine „sinfonische Dichtung“, wie sie später die Herren Liszt & Co geschrieben haben, wenn sie vor lauter überbordenden musikalischen Einfällen auf die Zwangsjacke der klassisch strengen Sonatenform einfach pfiffen. So floss die 8. melodienselig dahin, die tiefen Brummbären bassikatierten, und die vielen kleinen Akzente (nicht immer auf dem gewohnten Schlag), die kurzen Schwellwerke von Dynamik rauf oder runter – dazwischen Ländlerisches: Diese Unvollendete war – mit einem Satz – vollendet.
Zweites Beispiel: Wenn die große C-Dur-Sinfonie, die nicht mehr die 9. sein darf, daher kommt wie die Beethoven’sche Neunte, majestätisch glänzend, hat sie verloren. Wunderschön… Aber der Beethoven! Tausendmal schöner! Nö, das wollte Beermann seinem neuen Liebling Schubert nicht antun.
Was macht er? Er spielt die Ecksätze einfach schneller und nimmt schon den ersten Hörnertakten jedes majestätische deutsche Waldeichen-Pathos, und er lässt jede nur denkbare Wiederholung spielen, auch die langen in den langen ersten und letzten Sätzen. Das ist ganz einfach Schubertsche Freude am Spiel, am Diskutieren der Stimmgruppen über dasselbe Thema, alle ein Herz und eine Seele, und dann noch einmal: romantisch epische Erzählfreude, nicht klassisch strenges Treiben in den dramatischen Sieg oder den tragischen Untergang mit Größe. Da ist Freude in jedem noch so kleinen Motivschnipsel, den hören wir gern ein paar Mal, da muss nicht ein Riesenchor am Schluss den Götterfunken aus Elysium-Felsen geschlagen werden, bis wir feuertrunken sind. Da freuen wir uns, und die Streicher verfluchen uns – und den Dirigenten, der das Wahnsinnstempo vorgegeben hat, über die fingerverwickelnden Verzierungen über jedem Ton – während die Bläser gelassen die Melodie vor sich hinblasen dürfen, Lungen schonend, weil nicht so viel Luft gebraucht wird, auch wenn die Glücksspirale (nicht zu Beginn, das war großartig) ab und an giekst. (Das wird zu Schuberts Zeiten nicht andres gewesen sein).
Traumhaft. Nicht nur dieser Abend. Die „Begegnungen mit Schubert“ waren mit ihren verschiedenen Spielstätten ein großer Genuss für alle, die dabei waren. Und viele waren jeden Abend der Woche da. Und sind jetzt Schubert-Freunde und -kenner. Und freuen sich schon, wenn in der kommenden Spielzeit wieder Schubert auf dem Programm steht (1. Sonntagskonzert, 2. November).
Nur zwei sind noch ein bisschen traurig: Jens Gagelmann und Carsten Neppl. Die Pauker müssen die wunderbaren Wiener Pauken, die so gut zu Schubert passen, wieder zurückgeben, sie sind nur geliehen. Dabei würden sie so sehr gebraucht, auch beim Gastspiel der Robert-Schumann-Philharmonie auf Schloss Neuschwanstein im September, wo auch Schubert auf dem Programm steht.
Schau ‘n mer mal… Vielleicht findet sich ja ein Sponsor für die Kupferklangwunder mit ihrem Ziegenfell.