Gerutscht. Aber nicht ausgerutscht

des Schauspielhauses anstellt, ist zufällig. Alles rutscht im Sahneklitsch, nicht nur buchstäblich, aber niemand rutscht aus, nichts gleitet weg. Es hätte schief gehen können. Als Claudia Bauer sich auf High Heels in den Sahneteppich auf der Bühne wagt, wankt sie noch unsicher, ob Buhs oder Beifall überwögen. Dann steht sie: keine Buhs. Das Premierenpublikum klatschte ihr zu. Ausatmen. Glück gehabt. Und Mut.
Claudia Bauer erzählt in Oscar Wilde’s „Salome” die nackte Wahrheit über eine verlogene Gesellschaft. Sie sind dekadent, die geilsexen Akteure, ob sie als Juden, Römer oder Tunten daherkommen. Ob sie („die spinnen, die Römer”) Asterix-like taumeltanzen, griechen-tragödische Chorweisheiten stammeln oder sich die Sahnetorten ins Gesicht und sonstwohin knallen. Alle Klamotten sind schließlich versaut, so wie ihre schmutzigen Seelen. Die sahneweisen Gesichter sehen aus wie Totenmasken, ein makabrer Totentanz wird als „Reise nach Jerusalem” hingelegt. Aber sie bleiben alle am Leben. Dekadenz stirbt nicht. Verlogenheit auch nicht.
Die Wahrheit ist nackt. Jochanaan (souverän: Bernhard Conrad) muss seinen Johannes fast eineinhalb Stunden ungeschützt vor sich hertragen. Sie mögen die weissagende Wahrheit des Propheten nicht: Herodias, Mutter und Stiefmutter ihrer Tochter (Susanne Stein, wild und ängstlich gleichermaßen präsent), rudelbumswillige Machtbesessenheit, und Herodes, Stiefvater seiner Nichte (Wenzel Banneyer: großartig der Monolog über die Schätze der Welt, die nicht ein Haar des rumpfgetrennten Jochanaan-Hauptes wert sein würden), scharf auf die Tochternichte. Nur diese Salome (Daniela Keckeis: klasse. Schade, dass sie nach der Spielzeit geht) fühlt sich seltsam angezogen von der nackten Wahrheit, sie braucht keinen Sieben-Schleier-Striptease. Sie spürt für einen kurzen Moment die nackte Wahrheit an sich – und vergisst dabei, dass der rote Mund eines abgehauenen Kopfes allein kussbitter schmeckt, weil er die Wahrheit nicht mehr sagen kann. Ein bisschen wahr – das geht nicht. Sie büßt. Wickelt sich in den Bademantel und wird vom Stiefvater todbefohlen.
Marilyn Monroe hauchte ihrem mit Jackie verheirateten Ex-Lover John F. Kennedy mit dem berühmten Geburtstagssong am 19. Mai 1962 im Madison Square Garden in New York ihr letztes Ständchen. Bis heute sind die Gerüchte nicht verstummt, Kennedy habe sie durch die CIA ermorden lassen, weil die Affäre ihn das Amt hätte kosten können.
Und die Gesellschaft klitscht weiter dekadent dahin. Herodes 28 nach Chr., Kennedy vor 50 Jahren, Bill Clinton und Monica Lewinsky in den 90er Jahren, die Orgien der Obama-Sicherheitsleute heute – Oscar Wilde’s dekadente Fin-de-siècle-Stimmung wabert nach wie vor. Claudia Bauer hat im Chemnitzer Schauspiel mit Oscar Wilde’s „Salome” dem Publikum den Spiegel aufgestellt: Wem’s nicht gefällt, der werfe den ersten Stein. Das Premierenpublikum war, so schien’s, von der (Selbst?)Erkenntnis getroffen oder betroffen. Selten dauerte es so lang, bis nach dem „Licht aus” der Beifall kam. Aber er kam. Claudia Bauer hat Wilde’s “Salome” wieder zum Leben erweckt. Auch ohne Richard Strauss.