Der fehlt dem Chemnitzer Publikum ab und an. Die Franzosen, deren Namen schon so gar nicht über die Zunge gehen und durch die Nase klingen wollen, sind vielleicht allzu fremd. Und dann noch ein Klarinetten-Konzert! Wenn’s Mozart gewesen wäre… Aber die Belgierin Annelien Van Wauve spielte Françaix – dessen Konzert kannte höchstens eine Handvoll Enthusiasten. Die anderen entdeckten ein wunderbar funkelndes musikalisches Kleinod… Den Chemnitzern fällt es manchmal schwer, mutig auf was Neues zuzugehen und darauf zu vertrauen, dass die Robert-Schumann-Philharmonie die überregionale Bedeutung, die sie genießt, nicht auf’s Spiel setzt. Zu viele Plätze waren nicht besetzt. Die paar hundert, die da waren, jubelten.
Viele Musiker, die an diesem Abend dienstfrei hatten, waren im Publikum. Auch Felix Bender. Hat der kommissarische GMD seinen Nachfolger gehört und gesehen? Dass Patrick Davin Kandidat ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Spätestens, seit er im Januar 2015 die Chemnitzer beim Sinfoniekonzert begeisterte. Jetzt dirigierte der Belgier das Sinfoniekonzert – und im November Wiederaufnahmen von Massenets „Werther“ in der Oper.
Oper kann er, auch wenn er ein Sinfonieorchester leitet: das Orchestre Symphonique aus der Chemnitzer Partnerstadt Mulhouse. Im Elsass gibt es eine gewagte, aber höchst erfolgreiche Konstruktion der Opéra du Rhin. Sie wird getragen von den Städten Straßburg, Colmar und eben Mulhouse. Die Orchester der Oper sind die Straßburger Philharmoniker und, ja, die Mühlhauser Sinfoniker.
Die Robert-Schumann-Philharmonie ist ungleich größer als das Pendant in der Partnerstadt. Mit ihr Glanz zu entfalten fällt einem Dirigenten nicht schwer – wenn mal die Moll- und Mythosnebel dem kräftigen Dur-Sonnenlicht gewichen sind (César Franck, Le Chasseur maudit – Der wilde Jäger) oder Ernest Chausson im 3. Satz seiner B-dur Sinfonie das Blech das wunderschöne Motiv erklingen lässt, das später durch Dvořáks „Sinfonie aus der Neuen Welt“ (4. Satz) weltberühmt werden sollte.
Interessanter, wie Davin den Françaix dirigiert. Diese vertrackten Rhythmen, diese höchste Präzision erfordernde Jokerei des Komponisten, dem ein Anliegen war, dass die Leute mit seiner Musik gut unterhalten würden, die – plumblub – ausklingenden Satzschlüsse, die versetzten Motive, die scherzhaft herausfordernden Perlenläufe zwischen Solo-Instrument und Flöte… Am Rande, und wenn wir schon beim Holz sind: Wir haben wieder mal eine Sternstunde der Chemnitzer Holzbläser erlebt – und das Blech stand ihnen nicht nach (Hörner!).
Den Stab („baguette“ heißt das Ding auf Französisch, wie das Brot) braucht Davin beim Dirigieren eigentlich nicht. Seine (großen) Hände sprechen eine viel deutlichere Sprache. Der Zeigefinger der linken schießt geradezu in die ersten Geigen, wenn da oben der Gipfel erklommen wird, dem Pauker signalisiert der „!“-Unterarm, dass es jetzt auf ihn ankommt, und das Holz kann sich vom schwingenden linken Arm wiegen lassen und Töne und Melodien schöpfen. Für den Zuschauer ist die Schlagtechnik präzise – man ahnt Sekundenbruchteile vorher, was, wo, wie gleich kommen wird.
Das Spielchen mit dem Danke-Strauß am Schluss lässt vermuten, dass das Orchester mit seinem Dirigenten zufrieden war. Konzertmeisterin Heidrun Sandmann weigerte sich zunächst, Davins Dankesstrauß anzunehmen – und das Orchester stand auch nicht auf: der Beifall sollte allein dem Dirigenten gelten. Bis der – per ordre de Mufti – auf’s Pult stieg, das kleine hölzerne Zepter hob… und alle gehorchten. Und sich die Konzertmeisterin schließlich doch über den Strauß freuen konnte.
Ihren Strauß hatte Annelien Van Wauwe der Kollegin Ulrike Rusetzky quer durchs Orchster hingebracht: Anerkennung für eine kongeniale Partnerin im schnellen Hindernisfiguren-Tonleitern-Laufduell. Françaix verlangt den Spielerinnen alles ab. Man kann den Klarinettisten Jack Brymer sehr gut verstehen, wenn er, wie Carla Neppl im Programmheft zitiert, bemerkte: „Im Augenblick sind seine [des Kompnisten] Rouladen in H-Dur zu schwer für fast jeden Spieler.“
Nicht für Annelien Van Wauwe. Sie lockte wie eine Schlangenbeschwörerin, wirkte souverän in Meisterstellen wie ihre schöne rote Konzertrobe und schalmeite scherzhaft mädchenhaft, so wie sie später ihr zitronengelbes Kleidchen trug, als sie im Publikum den Chausson anhörte. Große Klasse, wenn sie ihr Holz in der Tiefe murmeln ließ, wenn sie zu Piani ansetzte, wo andere nur Quietsch- und Hauchgeräusche rauskriegen – das war noch beeindruckender als die fliegenden Finger und die schier unerschöpfliche Lungenluftpumpe – , zum Schmunzeln die locker flockigen Satzspaßausklänge. Souverän bei den verwickelten schnellen „Rouladen“, höchst musikalisch gewürzt die beide Kadenzen – und die Strawinsky-Zugabe, die sie – in gutem Deutsch – weil vom Françaix-„Vorbild“ passend fand. Wir auch…
Ein Könner mit dem Taktstock, eine Meisterin am Metallklappenholz, ein neu entdecktes Kleinod des Konzertprogramms – DeutschlandradioKultur konnte den „vielen Projekten aus Chemnitz … , [die] außergewöhnlich in Programm und Umsetzung waren“, ein weiteres hinzufügen. Wer’s live erleben wollte, hatte einen guten Riecher. Die Robert-Schumann-Philharmonie kann auch „französisch“. Wir freuen uns auf die Wiederaufnahme mit Massenets „Werther“.