Richard III.: Gut, dass wir so edel sind

Shakespeare ist ein Leute-Verführer. Er muss sein Theater finanzieren. Heißt: die Geschichte muss der regierenden Monarchin Elisabeth ins Welt- und Stammbaum-Bild passen, und das Publikum muss seine Streicheleinheiten kriegen und Spaß haben. Wenn das Ganze dann auch noch aussieht, als sei so die Welt, dann herrschen Friede, Freude, Eierkuchen. Schau in den Abgrund, und du weißt, wie gut es dir geht, wenn du nicht reinplumpst.

Malte Kreutzfeldt inszeniert eine zeitlose Story shakespearenah. Widerspruch, klar. Funktioniert aber. Die Bühne (Nikolaus Porz) erinnert an das legendäre runde Globe-Theater des Herrn S. in London. Die Metallstreben der Drehbühne ersetzen das roh gezimmerte Holz von dort. Feuchter stinkender Nebel wabert, wie dereinst am Themsesumpf. Kulissen braucht’s nicht. Schiefe Ebene (alle, die am Anfang – schönes Bild – brav da oben sitzen, kommen schließlich drauf), die Drehbühne, hoch, runter, schräg gefahren, enthüllt Abgründe und mühsame Mörder-Anstiege zum Thron. Sieht alles ganz simpel und logisch aus. Aber Riesenaufwand. Die Schauspieltechniker verstehen ihr Fach.

Klar: mit shakespearischem Säbel und Dolch wird gemordet, aber auch mit Kalaschnikows, Pistolen und Sturmgewehren. Und da sich ein Schwerter-Entscheidungskampf allemal besser macht als ein Pistolen-Bum-und-Aus, fechten Richard und Richmond den Entscheidungskampf mit Schwertern aus (wozu hat man das auf der Schauspielschule gelernt!). Auch das kann Susanne Stein. Beidhändig. Kompliment.

Viel Blut hatten wir erwartet. Hielt sich aber in Grenzen. Die Abmurkserei nimmt bisweilen eher groteske Züge an, wenn etwa einem mit blutroten Erdbeeren das Maul gestopft wird. Oder Halsschlagader-Pulsblut aus dem  Container gepumpt wird. Alles nicht grausam oder gar ekelig. Viel interessanter, wie sich Gesichter blutverschmiert in Fratzen verwandeln, wie Susanne Steins Richard im blutgesichtigen Rausch dahintaumelt zwischen Wahnsinn und Verzweiflung, Mördergrins und Chefhype.

Susanne Stein kümmert sich einen Dreck um irgendwas im Weg. Weg damit. Kopf ab. Sie macht sich hässlich bis zur Spastik, weil Richard ein hässlicher Gnom sein muss, ein Widerling auch im Äußeren, aber sie kann auch schnurren (wenn sie die minderjährige Nichte gewinnen will) oder brustraus marschieren wie einstmals der Oberlippenbart-Diktator im Berliner Bunker, gefolgt von der katzbuckelnden schleimspurziehenden Entourage von Speichelleckern, die sich Generale nannten, und hier Lords oder Prinzen heißen.

Die Kürzungen tun dem Stück gut (dauert eh mit Pause rund drei Stunden). Dadurch aber ist Richard fast immer mit Mittelpunkt des Geschehens. Nicht magnetisch, fast magisch folgen die Augen des Publikums dieser Gnomen-Königs-Ratte, ahnen wollend, was für eine Sauerei sie als nächstes anpeilt. Großartig Richards Doppel-Monolog (wenn’s so was gibt und es nicht innerer Dialog heißt): Ich bin der Böse. Quatsch. Ich mach doch alles richtig… Beeindruckend die Schreckreaktionen im Albtraum vor der Schlacht. Das war großes Theater, Susanne Stein!

Wer zu wem gehört und mit wem oder gegen wen will oder wollte und heiratet oder nicht, und um wen wer oder die eine mehr als die andere trauert, kapiert im Publikum niemand. Das fällt sogar beim Lesen schwer. Wahrscheinlich weiß nur eine, wie da Ordnung zu schaffen wäre: Friederike Spindler, die Dramaturgin. Sie hat’s versucht zu erklären, vor den Proben, und aufgegeben. Dieses komplizierte Geflecht von Beziehungen muss und kann man nicht kapieren. Wurscht. Jeder denkt an sich, nur ich dank an mich. Nicht von Shakespeare. Könnte aber.

Warum kommt einem da Muammar al-Gaddafi in den Sinn, der Richard des 20. Jahrhunderts? Von dem alle wussten, dass er ein Mörder war. Sagte er offen. Entschuldigt sich lächelnd für mörderische Diskotheken-Anschläge und ist wieder der Liebling von Staatspräsidentenpimperer Berlusconi und anderen selbsternannten Weltfriedensmoralaposteln etwa im Weißen Haus. Wenn sie ihn oder sein Öl brauchten, war er gut. Wenn Richards Peers sich eine Grafschaft wünschten, machen sie ihm sogar noch dreckigere Vorschläge, als worauf er selbst gekommen wäre. Wie der Herr Buckingham (in dessen Palast sich die heutige Elizabeth breit macht) . Bis ihm Richard zeigte, was eine Harke ist und was das blöde Geschwätz von gestern wert, wenn der Gehorsam nicht kadaverig bleibt.

Philipp Otto spielt den Buckingham. Scharf, zynisch, gebrochen. Er schreit wie Goebbels und zieht suggestiv die „zungenlosen“ Hörer in den Bann, er haut mit dem Schuh auf den Tisch (wie weiland Chruschtschow vor der Uno in New York). Solche Anklänge will Malte Kreutzfeldt. Deshalb verpasst er Richmond (Grégoire Gros) auch die eiserne Faust, bei uns Zeichen des Herrn Götz von Berlichingen. Den hatte der Kaiser auch in Reichsacht geschickt. Bis er ihn brauchte für den Kampf gegen die Türken. Wer weiß, ob Richard den geächteten Richmond nicht auch wieder zum Freund gemacht hätte, hätte er vorher nicht überzogen und sich das Pferd unter dem Hintern wegschießen lassen.

So hängt er – unshakespearisch – am Schluss wie Tom Dooley am Galgen oder jener Western-Räuber am Ast, der seiner, aber nicht des Gauls Flucht im Wege war. Diese Schlussszene habe ich nicht kapiert. Richard stirbt. Kommt hier sogar in die Häckselmühle. Aus, fertig. Denkste. Kommt blutig wieder hoch. Schwebt zwischen Himmel und Hölle und jammert „Ein Königreich für ein Pferd“. Das hat er bei Shakespeare lang vorher getan. Sonst hätte er gewonnen. Soll das die Zeigefinger-Mahnung sein, dass das Böse immer wiederkehrt, oder nur ein Schlussbild, das den Zuschauern im Hirn haften bleibt, wenn sie zum (an diesem Abend) 60er-Gedudel ins Exil schwärmen?

Tolles Stück, die Schauspieler mögen es. Klasse die Protagonisten. Beeindruckend die sieben anderen in gefühlt Dutzenden von Rollen (Maria Schubert, Florence Matousek, Christine Gabsch, Lysann Schläfke, Wolfgang Adam, Marko Bullack, Christin Ruth – Shakespeare hat mehr als 50 Rollen vorgesehen). Nichts von „statuarisch“ und „langweilig“, wie ein online-Dienst der Stuttgarter Inszenierung drei Tage vorher aufstempelte.

Das Böse war in Chemnitz richtig böse, und das Publikum fühlte sich shakespearisch wohl, gut und edel. Alles bingo. Wäre da nicht morgens in der Freien Presse Chemnitz eine Lokalspitze erschienen, die doch ein bisschen nachdenklich macht. Und die wir Ihnen denn auch nicht vorenthalten wollen: „Edle Beleidigung. Jemanden zu beleidigen heißt laut Duden, ihn in seiner Ehre zu verletzen. Altbewährtes Mittel dazu ist zum Beispiel der Rückgriff auf Tierbezeichnungen. Doch auch Sprache befindet sich im Wandel, wie folgende Szene zeigt: Vier Teenager diskutieren wortreich miteinander, bis ein Mädchen wütend davon läuft. Zwei der anderen rufen ihr eine Schmähung hinterher. Die lautet aber nicht „blöde Kuh“, sondern: „Du bist edel.“