„Vielleicht müsste ich auch mal was Fröhlicheres schreiben“, sagte die Autorin, selbst noch ganz im Bann des Erlebten, nach der Vorstellung. Sie selbst hatte ihr Stück da auch zum ersten Mal auf der Bühne gesehen – hatte miterlebt, wie die Regisseurin Nina Mattenklotz jedem noch so leisen Hinweis im Text mit starken Bildern nachgegangen war, welche Eruptionen Schauspieler durch Sprache, durch Gesten erzeugen können, die in dem (durchweg in Kleinbuchstaben geschriebenen) Text für den Leser fast unscheinbar daherkommen. „Mich überfiel Gänsehaut. Eine nach der anderen“, sagt Paula, eine der Figuren im Stück. Der Autorin dürfte es nicht anders ergangen sein. Das Stück bietet Stoff für mehrere Tragödien – Kraft kriegt es auf der Bühne. Wenn es so ernst genommen wird, wie es das Team der Chemnitzer Uraufführung tat.
„Mein Weg mit dem Stück würde ich als Reise beschreiben“, sagte die Regisseurin bei der Laudatio anlässlich der Preisverleihung (abgedruckt im Programmheft). „Ich fand das Stück grell, krass und laut, zu grell und zu krass und zu laut.“ Um dann die „berührende, traurige Geschichte“ zu entdecken, „die mich immer mehr eingenommen und mitgenommen hat“. Als eine Reise dahin muss man sich wohl auch die gemeinsame Erarbeitung des Stücks in den Proben vorstellen. Selbst die Kostüme (zumindest das von Polly) wurden zum Schluss noch geändert.
Interessant aber als Beispiel die Geschichte, die Magda Decker, die die Polly spielte, erzählt. Dazu gleich mehr. Erstmal zum Inhalt.
Vier Menschen (Paula, Polly, Fritz und Elvis) hängen irgendwie zusammen. Wie, das sei nicht verraten, auch nicht, ob alles wirklich noch leben, weil es für künftige Zuschauer spannend ist, wie sich das im Lauf des Stückes herauskristallisiert. Die vier sind auf der Suche nach Liebe, Nähe, Zärtlichkeit. In allen vier ist jeweils auch ein Gegenpart präsent als Teil der Persönlichkeit. Der Abdecker liebt Hunde, die Tierarzthelferin spült Tiere das Klo hinunter. Der Vater zeugt (wahrscheinlich) mit der Tochter ein Kind und beweint es dann. Paula ist HIV-positiv und sucht die Extremform der gleich intensiven Liebe, indem sie andere ansteckt. Und Polly? Ist Kind, Tochter und Mutter.
Ein Neugeborenes wird „entsorgt“. Warum und wie und wie furchtbar wird in einem langen Monolog geschildert. Im Stück ist er Polly (Magda Decker) zugedacht. In der Aufführung wanderte der Monolog zuerst zu Fritz, dann im Wechsel zu Paula und Polly, den untrennbar verschweißten Frauen, die die schlimme Geschichte gemeinsam sprechen, in gleichem Ton, nicht deklamatorisch – absolut parallel. Jeder, jede im Ensemble kennt die Texte. Und so dringen, wie Magda Decker erzählt, die Figuren im Lauf der Proben immer weiter ineinander, schaffen dramatische Effekte in Sprache und Spiel.
„Komm in mich“, heißt es an einer Stelle (hony soit, qui mal y pense – der Inhalt spricht bisweilen von Schlimmem, die Aufführung bleibt dezent), aber nicht nur ein Mund öffnet sich für den Finger, sondern gleich mehrere. Mit der Imitatio spielt Nina Mattenklotz gern und schafft dadurch wunderbare Bilder und Choreografien – wenn einer streichelt und im Gleichklang von einer anderen gestreichelt wird. Wenn zwei hintereinander oder aneinander in der gleichen Bewegung, als seien sie eins, gehen, schreiten, balancieren.
Das steht alles so nicht im Textbuch. Uta Bierbaum hat sich mit Regieanweisungen sehr zurückgehalten. Sie kommt vom Text her. Aber in dem Text stecken (Talent, Können?) unendlich viele Möglichkeiten. Und ein kluges Regisseurinnen-Auge liest darin Bilder wie die Wahnsinnsszene „Alle lieben Paula“. Das ist von Regie und Schauspielern nicht nur handwerklich gut, sondern wie auch in anderen Teilen überraschend genial gelöst.
Die beiden Damen Paula (Pia-Micaela Barucki) und Polly (Magda Decker) haben (weil von Autorin und Regisseurin geführt?) die dankbareren Rollen. Und das nutzen sie. Pia-Micaela Barucki, die Überlegene, die Unterlegene. Um sie dreht sich letztlich alles. In ihrem schlichten roten Strickkleid ist sie in jeder Sekunde „Mitte“. Und mit ihr geht am Meer alle Hoffnung unter.
Magda Decker (Polly), die – wie sich herausstellt, eigentlich tragische Figur – schenkt sich nichts, aber auch gar nichts. Als Miez suchendes Kind, als Exaltierte, als Frustrierte – immer genau auf der Kante zwischen normal und verrückt, verschmust und todernst, sie tritt elegant die kalte Zigarette aus und wälzt sich verzweifelt gewalttätig der Gewalt entgegen, die sie beherrschen will.
Ursprünglich sollte das Stück einmal „Gewalt“ heißen, wie Uta Bierbaum in einem Interview des mdr sagte. „Menschen, denen es gut geht, die will niemand sehen“. Allen vieren geht es nicht gut, und alle werden/wurden sie gewalttätig in ihrer Sucht nach Nähe und Zärtlichkeit. Vor allem Fritz (Philipp Otto). Wie Philipp Otto den schlechten Teil seines Selbst hinausdividiert in eine mitleidende entfernte Erzählung von Fremdem – das hat Klasse.
Der „normalste“ unter den vier Protagonisten ist Elvis (Michel Diercks). Er muss den Einfachen spielen, den Unexaltierten, der mal mit seinem Date ‘ne Pizza essen oder ins Kino will. Sie aber will ihn ekstatisch vereinnahmen in ihre HIV-Todesgewandtheit. Michel Diercks spielt den die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe träumenden Realisten glaubwürdig bis zum Ende, wenn er belämmert zurückbleibt.
Er, der Abdecker, der bei Menschen die Zärtlichkeit vermisst, findet sie bei Hunden (und gibt dadurch dem Stück den Titel), obwohl auch sie Wölfe sind: „Hunde, so sind sie“, sagt er einmal, „so sind sie, zarte Wölfe, weiche Tatzen… Alles an ihnen ist fragil und voller Demut. Deshalb ist es auch so einfach, weil sie so zärtlich sind wie die dünnen Äste unter meinem Fuß…“ Und: „Die Menschen verachten das Leben…Ich will den Hunden eine Freude machen, ich bereite ihnen ein Fest“.
Nur ein paar nackte (Friedhofs-)Bäume stehen auf der Bühne – nur ganz hinten hängt ein kleiner Kasten mit zwei Babyschühchen. Leuchtet auf – wie ein Symbol. Wie wäre es, wenn wir alle noch einmal ganz neu anfangen könnten, wenn wir noch einmal geboren würden. Und rechts an der Bühne sitzt Martha Kleinhempel mit ihrem Cello und spielt gleich zu Beginn „Wenn ich ein Vöglein wär‘…“. Wenn, wäre. Hoffnung. Aber so ist die Welt nicht.
Nina Mattenklotz, die Bühnen- und Kostümbildnerin Johanna Pfau, die vier Schauspieler und die Cellistin haben im schwierigen Text von Uta Bierbaum so viel Spielenswertes, soviel Dramatik, so schöne Bilder gefunden, dass das Stück ein Erfolg werden musste. Preiswürdig. Die Jury hat im Dezember schließlich einhellig ja gesagt. Noch unsicher. Nach der Premiere wissen sie, die Entscheidung war richtig.