Festspielatmosphäre im Opernhaus. Geschmackvolle Abendkleider, Smokings, beide Intendanten da, Bernhard Helmich, der gehende, Christoph Dittrich, der kommende – in Begleitung seiner Frau, Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig in elegantem langem Rock und mein Nachbar in ungewohntem schwarzen Dreiteiler mit Weste: „Wagner und Parsifal – da muss das sein…“
Eigenartig, wie dieses Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner auf der ganzen Welt Menschen in einen unerklärbaren Bann zieht und sie fünfeinhalb Stunden lang fasziniert alle Rückenverspannungen, schmerzendes Sitzfleisch und quollene Füße vergessen lässt. Auch die verquerst modernisierenden Inszenierungen tun dieser Faszination keinen Abbruch – in Chemnitz war damit eh nicht zu rechnen (zum Glück). Deshalb kommen so viele von überall her, wenn Wagner in Chemnitz angesagt ist. Und auch die Chemnitzer mit Premieren-Abo sind da – eine interessante Publikums-Mischung, eine andere Atmosphäre als bei anderen Premieren, ja, sagen wir’s doch: auch eine glamourösere. Chemnitz ist keine graue Maus…
Zu diesem Glanz tragen Frank Beermann und die Robert-Schumann-Philharmonie viele Strahlen bei. Von den ersten Klängen des Vorspiels an beherrschen sie das Haus. Beermann malt mit seinen Musikern nicht banal ab, was droben auf der Bühne geschieht, trägt nicht dicke Effekte auf, wie so was im Konzertsaal manchmal Sinn hat. Er zieht das Publikum hinein in das innere Drama der Figuren und des Geschehens – keine Regung geht dabei verloren, jedes Zucken einer Nervenfaser findet die Entsprechung in der Oboe, der Sologeige, den drohenden Bässen, oder im berstenden Tutti-Klang, der von Verzweiflung oder Sieg spricht. Alles ist hörbar, alles hat Bedeutung – fast barocke Streicherschichten oder eine ersterbende Pauke. Kein romantischer Tönebrei, aber auch keine isolierten Klangfetzen (die oft nur zeigen sollen, was das Blech oder die Harfen drauf haben).
Nach der Spanientournee, nach Tannhäuser und Vasco de Gama noch einmal eine Steigerung. Bewundernswert. Das spürten die Sänger oben auf der Bühne. Diese Robert-Schumann-Philharmonie trug sie sicher über die spitzesten Wagner-Klippen. Was für einen wunderbaren Gurnemanz haben wir erlebt: Sami Luttinen (wenn die eigenen Finnen wie Kouta Räsänen mal Pause brauchen, steht aus dem scheinbar unerschöpflichen nordischen Reservoir gleich ein andere profunder Könner bereit). Eine volle Bassstimme, eine mit sparsamsten Bewegungen beherrschende Bühnenpräsenz, eine Artikulation der Fremdsprache Deutsch und der fremdelnden Wagnersprache, wie sie sich viele Deutsche zum Vorbild nehmen könnten.
Und was für eine klasse Kundry haben wir erlebt und gehört: Susanne Schimmack, mit ihrem dunkel gefärbten Sopran, die Verführung, die klingsorverführte Heidin, die Erlöste! Sami Luttinen würden wir gerne öfter in Chemnitz hören. Und sehen. Sie ist die Bewegung per se gegenüber dem strengen, statuarischen Widerpart Gurnemanz.
Hannu Niemelä, noch ein Finne, bewegte sich ebenso sicher auf der abschüssigen (Nietzsche-Buch-)Bahn wie mit der Stimme als mephistophelischer Klingsor. Heiko Trinsinger, der in Chemnitz seit seinem Lescault in der (auch auf DVD erschienenen) Chemnitzer Produktion von Puccinis „Manon Lescault“ eine eigene Fangemeinde hat, bestach wie am Donnerstag wieder. Dort – wir haben berichtet – gewann er im Sängerkrieg (als Wolfram von Eschenbach – der übrigens im wahren Leben tatsächlich Minnesänger war und den mittelhochdeutschen Parzival gedichtet hat) den Publikumspreis, gestern fühlten wir in jedem Ton, in jeder Bewegung die Schmerzen des vom „heiligen“ Speer verwundeten Amfortas mit.
Was ein Ensemble-Theater (Gott sei Dank, haben wir eines!) leisten kann und dessen Mitglieder leisten (müssen), dafür standen Protagonisten wie André Riemer (3.Knappe) und Martin Gäbler (2. Gralsritter) so verlässlich wie basisbildend gut auf der Bühne. So wie am Tag vorher im „Vasco“ und am Donnerstag im „Tannhäuser“. Oder die wunderbare Guibee Yang, die sich nach ihrer Mammutrolle als Inès am Freitag nicht zu schade war, eines von Klingsors Zaubermädchen zu singen – im Kreis von weiteren fünf Kolleginnen, die zum Ensemble gehören, oder schon mehrfach in Chemnitz gesungen haben. Selten hört man die Zaubermädchen so abgestimmt fein und präzise.
Chor und Extrachor haben nach den wuchtigen Ritter- und betenden Pilgerchören des Tannhäuser schnell wieder aus dem schwankenden Trinklied der Matrosen- und dem Brahmanenchoral-Französisch des Vasco schnell wieder hineingefunden in den wallenden Wagner-Waber. Simon Zimmermann hat zu Recht Blumen und Flüssiges von seiner Truppe verdient. Er hat sie noch weiter vorangebracht.
Und Parsifal?
Mati Turi, auch ein Nordländer (aus Tallinn) hat einen wunderbaren Tenor. Heldisch herrschend, auch wenn er nur den „tumben Tor“ spielen darf. Den „reinen“, wie es bei Wagner heißt. Nur leider stolpert er vor sich hin und niemand glaubt ihm so recht, dass er bei dem Kundry-Kuss etwas empfinden, schon gar nicht das Stückwendende Mitleid empfinden oder den Trinsinger-Amfortas adäquat ablösen und den Gral als Erlöser des Erlösers enthüllen darf. Selbst nicht, wenn er über die Köpfe seiner Ritter hinaufgehubfahren wird.
Das liegt wahrscheinlich nicht an Mati Turi, sondern an John Dew, von dem die Inszenierung stammt. Dessen Ideen hat Marcelo Buscaino in Regie umgesetzt (deshalb im Programmheft die ziemlich seltene wenn nicht einmalige getrennte Erwähnung von Inszenierung und Regie). John Dew hat sich wahnsinnig viele Gedanken gemacht. Über Wagner und das Judentum und den Antisemitismus (der „Heiland“ war Jude…). Über Gott und die Welt und der Dreifaltigkeit Stellvertreter auf Erden.
Und das alles will er jetzt loswerden. Er braucht fast das ganze Programmheft, um seine Gedanken zu erklären. Er braucht einen Gurnemanz, der wie ein Bänkelsänger (oder ein Oberlehrer) an der Tafel erklärt, worum es geht. Er braucht Buchstabenrampen, um im ersten Akt per Kirchenväter (Augustinus,Hieronymus, Gregorius, Ambrosius) zu lehren: Hallo, das ist Gottes Land, und im zweiten per Gottesleugner (Voltaire, Nietzsche, Marx, Spinoza) das Klingsor-Höllenreich der Verstoßenen in die Augen des Publikums zu drücken. Er lässt Amfortas päpstlicher als den Papst durch die Gegend tragen. Und lässt die Quintessenz seiner Erkenntnis riesengroß das Schlussbild überlagern…
Parsifal: das Lehr(er)stück des John Dew. Ein Lehrstück mit teils bestechenden Bildern. Das riesige Kreuz mit dem angenagelten Christus (warum steht es nicht steiler, dass man die vom Speer geschlagene Wunde, um die es in der ganzen Oper – sorry, dem Bühnenweihspiel – geht, sehen kann?). Das Kreuz mit der Schlange – tolles Licht, je nachdem, ob Wonnen-Lust oder Erlösung, Schlange oder Kreuz strahlen sollten. Und viele Bilder mehr. Die Demut der Magdalena-Kundry, die dem Erlöser die Füße wäscht (auch so eine Wagner-Verkehrung: in der Bibel steht es genau umgekehrt), der verzweifelte Amfortas am Titurel-Sarg: Starke Bilder!
Insgesamt ein starker Abend. Vor fast 100 Jahren, 1914, hat die Chemnitzer Oper als eine der ersten nach dem Ablauf der Cosima’schen Bayreuth-Schutz-Sperre den „Parsifal“ aufgeführt, zur Wiedereröffnung der Oper nach der Wende wurde Michael Heinickes „Parsifal“ gegeben. „Damals hab‘ ich durch Sie zum ersten Mal kapiert, dass Parsifal nicht Gottesdienst sein muss“, sagte Karl-Gerhard Schmidt, langjähriger Chef der mächtigen Bayreuther Freundesgesellschaft und ausgewiesener Wagner-Kenner, vor Beginn zu Michael Heinicke. Der lächelte nur: Er wusste, was John Dew zelebrieren würde…
Jubel, Klatschen, Bravi. Viele Bravi. Und am Schluss musste wieder der unerbittlich geschlossene Vorhang dem Beifall ein Ende setzen.
Und das schreibt Andreas H. Hölzer im „Opernnetz“