Pace. Frieden!

„Pace!“ – wie einen Hoffnungsschrei lässt Ottorino Respighi die zwei Silben des italienischen Wortes für „Frieden“ im Raum stehen, ehe die Musik erstirbt. Das „lyrische Poem“ „Il tramonto“ – „Der Sonnenuntergang“ erzählt die Geschichte einer Frau, die bei und nach Sonnenuntergang mit ihrem Geliebten noch einmal höchste Freude genießen darf. Den ersehnten Blick auf die aufgehende Sonne erlebt ihr Geliebter nicht mehr. Er ist in ihren Armen gestorben. Sie lebt weiter – tiefen Schmerz in ihrer Seele, aber sie lebt. Die Geschichte der Überlebenden, die einen schweren Verlust mit sich herumzuschleppen haben, aber nicht verzagen – wie viele Flüchtlinge aus Syrien teilen das Schicksal dieser tapferen Frau. Und sehnen sich hoffentlich wie sie nur nach einem: nach Pace, Paix, Frieden…

Cordelia Katharina Weil, Mezzo-Sopranistin an der Chemnitzer Oper und Solistin des Abends,  hat das Gedicht, das auf einer englisch-romantischen Quelle rührt, aus dem Italienischen selbst übersetzt. Sie kennt jede Nuance der Entwicklung im Inneren der Frau – jeder Ton, den sie singt, wird bedeutsam, jede Klangfärbung malt Seele… Die Streicher nehmen sich helfend zurück.

„Mir ist nach dem Werk, als habe ich eine große tragische Geschichte gelesen“, bekannte Clara Schumann, eng befreundet mit Johannes Brahms, als die dessen Klavierquintett f-moll gehört hatte. Sie kannte ihn besser als wir, den norddeutschen Backsteinprotestanten, der sich im katholischgoldprunkenden Wien als Immigrant fühlen musste. Brahms, der zu kämpfen hatte mit den übermächtigen Heroen der etablierten Vergangenheit (vor allem Beethoven), der sich unsicher fühlte in der Zeit des Wandels, wo Neuerer (Wagner) den Ton angaben, der in manchen Ohren noch gar schrecklich klang – er hat sich schließlich selbst gefunden wie jene Frau in Respighis Poem. Und die Wiener haben ihn, den Immigranten, schließlich geliebt.

Brahms hat lange an diesem Klavierquintett gearbeitet – verschiedene andere Besetzungen geprüft und verworfen. Jetzt glänzt das Quintett als eine der schönsten Kompositionen in der Zeit des (nicht nur musikalischen) Wandels – mit Anklängen an Beethovens Fünfte und Wagners Tristan. Das Mejo-Quartett, den Brahms noch vom Violinkonzert vor ein paar Tagen in den Fingern, war spürbar zuhause in diesem Wechselbad zwischen melodischer Schlichtheit und harmonischem Experiment. Großartig die Einbettung des Klaviers in den Gesamtklang, das die junge Johanna Zmeck so rücksichtsvoll wie selbstbewusst spielte – keine Sekunde herrschsüchtig, die Streicher tot machend, was viele Quartette fürchten, wenn sie mit einem Klavier zusammen gespannt werden.

Dvořák war nach Amerika gerufen wurde, als Europa in der Welt noch den Ton angab. In New York hatte er seine „Sinfonie aus der Neuen Welt“ komponiert und aufgeführt, dort schon sehnsüchtige Melodien aus seiner ländlich böhmischen Heimat eingeflochten. Jetzt floh er aus dem Moloch an die Ufer des Turkey River. Und schrieb dort sein „amerikanisches“ Streichquartett (op. 96). Ist es schlimm, wenn der Hörer dabei unwillkürlich an 9/11, dem amerikanischen 11/13 von Paris, denkt? In den ruppig-feindlichen Großstadt-Passagen, und den friedenssanglichen, die an seine Heimat erinnern?

Das Quartett wird von den Bratschern geliebt, und von den Bratscherinnen. Weil ihr Instrument in seiner tiefen Ruhe endlich mal ernst genommen wird, und schon das erste Thema bekommt…

Auch Ulla Walenta spielte es mit freudigem Genuss aus. Sie bildet zusammen mit Katarzyna Radomska und Bernhard Fuhrmann (Geigen) und Thomas Bruder (Cello) das Mejo-Quartett. Mejo war der erste Leiter des Chemnitzer Stadtorchesters, das lange Jahre vor den Berlinern und Wienern 1833 gegründet wurde und Vorläuferin der Robert-Schumann-Philharmonie werden sollte. 2010 haben die Mitglieder der Robert-Schumann-Philharmonie sich erstmals zur gemeinsamen Kammermusik getroffen – mittlerweile sind sie ein großartig sich ergänzendes Team von unaufgeregten Co-Workern. Gewiss, sie leuchten gern Quartett-Highlights aus. Aber sie suchen auch nach verborgenen Perlen. Wie jenen Respighi, der über dem tragischen Tod des Opfers dem Lebenswillen der Angehörigen ein Denkmal setzt. Und der Sehnsucht nach ewigem Frieden.

Am Freitagabend wollte niemand mehr über Fußball reden. Vielleicht durften auch am Sonntag eher die Gedanken schweifen, zu dem, was Musik darstellen und bewirken kann, als über Feinheiten von musikalischer Komposition oder gelungener Führung der Bogenhand zu sinnieren.  Vor dem  Bösen in der Welt das Schöne nicht vergessen, das unser (von kultur- und morallosen Terroristen angegriffenes) Leben in Europa so lebenswert macht – es war ein guter Abend.