Operette?

Schweitzer und sein Autor Constantin von Castenstein (war mit seiner Berliner Nachbarin Petra Wesseler, der ehemaligen Chemnitzer Baubürgermeisterin, angereist) hatten die Idee zu „Südseetulpen“ vor elf Jahren „beschwingt“ (Schweitzer) durch Pfälzer Weißwein in Edenkoben (südliche, zu richtigen Operettenzeiten auch „süßliche“ Weinstraße genannt) ausgeheckt. E.T.A. Hoffmann hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihn zu seinen absonderlichsten und schönsten Grotesken und Geschichten vom Bamberger Rauchbier beflügelt hatte. Vielleicht können auch ein paar Schoppen Edenkobener dem Pegasus Flügel verleihen. Wer weiß. Hony soit, qui mal y pense.

Vor von Castensteins Augen jedenfalls flossen alle Grenzen in einander über, der alte Aristoteles (Einheit von Raum, Zeit und Handlung) konnte ihm gestohlen bleiben. Da handelt sich hangelnd das Geschehen von England in die Südsee (hoppla: Jamaika, woher die Tulpe kommt, in der Südsee? Und wir dachten immer, die Insel gehört in die Karibik), um die Tulpen-Blütenblase in Holland platzend welken zu lassen. Sonst um keine aktuelle Anspielung verlegen (Finanzkrise, Kapitalismus, Arm-Reich, Aktien-Hype, Flüchtlinge, Selbstheilungskräfte der Wirtschaft, Einmischung des Staates, Werbelügen), fehlten eigentlich nur Apple & Co., bei Stuyvesant der Hinweis auf die Zigaretten (Lungen-Götter hab sie selig), und die ungelöste Frage, warum die Vietnamesen am Straßenrand in und um Chemnitz die Tulpen aus Holland billiger verkaufen können als die Fachhändler in der Stadt, die dafür beim Einkauf viel weniger bezahlen.

Ob jetzt, 18. oder 17. Jahrhundert – alles „kein Problem“ für Egon und seine Kumpels von der Olsen-Bande, die kräftig zitiert werden, für die zur Tulpenkönigin mutierte Käse-Antje oder für Käpt’n Blaubär und andere YouTube-Nachlesen. Und – gründlich recherchiert, Chapeau! – auch Händel, Newton und John Gay (Autor der Beggar-Opera, des Dreigroschen-Oper-Vorbilds) dürfen sich als Blasen-Opfer präsentieren. Oder als Glücks-Ritter. Juckt’s? Nö. „Menschenrecht ist es, nach Glück zu streben (steht schon in der amerikanischen Verfassung: pursuit of happiness), Ich bin im Recht, dein Denken ist nur Wünschen“, hebt das „Glück“ im Stück gegenüber der Kollegin „Zufall“ den theatermoralisierenden Zeigefinger. Schön. Alles drin. Operette verträgt sogar die moralische Anstalt.

Alles drin. Das gefällt auch Schweitzer. Da hört man Weill und Wagner, Händel und Hindemith, Berg und Bernstein. Und noch viele andere. Mozart spielt hinein (Duett der beiden Hauptakteure wie die Geharnischten aus der „Zauberflöte“, der Verführer „Don Giovanni“). Viel Schweitzer gibt’s zwischen Schreker und Korngold: das Geschehen unter- und übermalend (Sturm). Pfeifen, Grummeln, Peitschen – das Orchester-Instrumentarium wird voll genutzt, der Schlagzeuger läuft sich hinter seinen aufgereihten Instrumenten die Hacken wund. Interessante Stellen – Musik des 21. Jahrhunderts, die ohne „Operette“ was hermacht (wir sind gespannt auf das Sinfoniekonzert kommende Woche mit Schweitzers „Introduktion und Lichtspielszene“ auf dem Podium, nicht aus dem Graben). Insgesamt: Eklektizistische Musik. Wohl Trend heute – siehe Eröffnungskonzert der Hamburger Elbphilharmonie. Was uns fehlte: die „hinreißenden musikalischen Zugnummern“, derer sich Schweitzer im Interview selbst lobte. Das Salz in der Operette sind auch die Melodien, die einem nicht aus dem Kopf gehen, wenn man heimfährt. Zwei Ohrwürmer bleiben haften: „Nach London“ und „South Sea Companie“.

Bühne (Tom Musch), Kostüme (Ingeborg Bernerth) und Regie (Robert Lehmeier) versuchten, diesem selbststrotzbewussten Mix („Was mir wirklich unverzichtbar wichtig war, ist so in die Musik hineinkomponiert, dass es in jeder Regie erhalten bleiben dürfte“. Schweitzer) eine eigene Note zu geben. Schwierig. Da muss man übertreiben. Das gelingt bisweilen in herrlichen Bildern, geht aber auch schon mal in die Hosen, wenn etwa die muskelbepackten Seebären die Segel hissen wie Oma Nachbarin auf der Wäscheleine Unterhosen aufhängt, oder wenn – jetzt zeigen wir’s dem Notenmacher mal! – der Holzschuhtanz seinen ganz eigenen Rhythmus entwickelt. Wer hört, was da aus dem Graben säuselt? Wir können‘s lauter.

Nicht nur hier leistete Ekkehard Klemm Schwerstarbeit, um seine Musiker-Frauen und -Mannen im richtigen Rhythmus zu halten, während droben der Holzschuhbär tobte, wie er wollte. Dem Dirigenten Klemm, ehemals Direktor der Dresdner Musikhochschule, heute Chef der Elbland-Philharmonie und selbst Komponist, ist keine Verrücktheit moderner Tonsetzer fremd. Und dirigieren kann er… Das lehrte er sogar als Professor. In einem mdr-Interview gestand Klemm, dass die Partitur der „Südseetulpen“ für ihn die schwierigste (Operetten-)Partitur gewesen sei, die er je dirigiert habe. Sagt alles.

Ja, wir ziehen den Hut vor der großartigen Leistung dieses Dirigenten, dieses vertrackt-rhythmische Tönegefummel unter einen Hut zu bringen. Die Einsätze zu geben, selbst wenn die Oboe nur einen Pieps und die Hörner nur einen Pups abzulassen hatten. Klemm war die großartige Klammer. Hatte alles im Griff. Soweit es ging.

Wir bewundern die Instrumentalisten. Selten haben wir vor Beginn gehört, wie so viele Stellen im Graben unten noch einmal angespielt werden. Unmögliches verlangt Schweitzer nicht von den Musikern. Aber manches gezupfte einsame Plumm gegen den Takt, verlangt zählen, zählen und nochmal zählen, obwohl’s oben eh keiner hört. Und mancher schwierige Saiten-Seitensprung scheint eher dazu zu dienen, die Finger in Übung und die Musiker wach zu halten für den nächsten wichtigen Einsatz. Mozart kam uns in den Sinn. „Gewaltig viel Noten, lieber Mozart“, soll Joseph II. gesagt haben, als er die „Entführung“ erstmals hörte. „Grad so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“, soll Mozart geantwortet haben. Bei Schweitzer sind es noch mehr als gewaltig viele. Aber, um bei den Olsens zu bleiben, kein Problem für die Robert-Schumann-Philharmonie.

Uneingeschränktes Kompliment auch an die Sänger. Immerhin Uraufführung. Kein Mensch hatte die Musik je vorher gehört. Das heißt lernen, lernen, ochsen, üben. Sie haben‘s großartig gemacht. Die beiden Hauptakteure Reto Raphael Rosin (John Blunt) und – was ist der schlank geworden! – Andreas Kindschuh (George Caswall), Sophia Maeno, die Stimme von Sylvi Schramm-Heilfort, die – herrlich – agieren durfte, die aber, wie sie traurig der Facebook-Gemeinde schon vor Tagen mitgeteilt hatte, bis zum 16. Januar absolutes Stimmverbot von den Ärzten hat.

Wen sollen wir noch hervorheben? Franziska Krötenheerdt (Frau Antje, Königin), Sylvia Rena Ziegler (Pandora – die schönste (?) Arie im 2. Akt)? Ja, sie haben es verdient. Wie alle ihre Kolleginnen und Kollegen, auch die vom Chor. Große Leistung. Die Chemnitzer Oper scheut zurecht vor keinem noch so großen Wagnis zurück.

Ein Wagnis war diese Uraufführung. Desto schöner, dass die OB da war, und Ingrid Mössinger. Und nicht nur Leute und Kritiker aus nah.

Wie zu hören war, stammt das Auftragswerk „Südseetulpen“ aus altem Erbe. Wenn ja, ist es leider nicht mit nach Bonn gewandert. Aber die Chemnitzer Oper hat sich reingehängt in diese Uraufführung. Mit allen Kräften. Mehr geht nicht. Kompliment. Das dankten die Zuschauer mit ihrem Applaus.

In der Pause waren einige wenige gegangen. Ein Paar aus Stuttgart, extra angereist, bekannte: „Fasziniert uns, was wir hier sehen. Chemnitz, eben Stadt der Moderne“. Dagegen ein Raucher draußen in der Schneekälte: „Diese Südseetulpen machen nicht richtig warm“. Ob diese „Operette“, die keine ist, ein Repertoire-Stück wird? Intendant Christoph Dittrich im mdr: „Wir wissen es nicht. Aber den Versuch ist es wert.“ Heißt: Kommt Leute, schaut’s Euch an. Macht Euch selbst ein Bild!

„Es ist vollbracht! Premieren sind trotz allem immer wieder was Besonderes!!“, postete Sylvi Schramm-Heilfort nach der Premiere auf Facebook. Wir gehen mal davon aus, dass sie mit dem „trotz allem“ nur ihren Stimmverlust meinte…