Onegin: „Voll zarter Tiefen, verschämt und frech und notfalls leicht“

Der Chemnitzer Ballettchef hat mit “Eugen Onegin“ eine Wahl getroffen, auf die man erstmal kommen muss. Puschkin, ja klar. Sein Versroman ist Weltliteratur. Trotzdem: der Stoff ist außerhalb Russlands eher durch  Tschaikowskys Oper bekannt. Tschaikowsky – Ballett? Da klingelt doch was. Gerade in der Vorweihnachtszeit. „Nussknacker“, „Schwanensee“…

Kann jeder, kennt jeder, hat sich Reiner Feistel wohl gedacht. „Voll zarter Tiefen, verschämt und frech und notfalls leicht“, beschreibt Puschkin seine Titelfigur. Steilvorlage für Reiner Feistel: Genau so sieht er das ganze Stück.

Dazu braucht er Musik. Die kann er nicht nur aus der dreistündigen Tschaikowsky-Oper „klauen“. Obwohl: Auf den berühmten Walzer will auch Feistel nicht verzichten. Wiedererkennungswert. Auch beim Ballett fördern mitsinganimierende Melodien die Applausbereitschaft (der kommt denn auch, wie bestellt). Aber auch in den Sinfonien des großen Russen findet Feistel balletttaugliche Stücke, und in der berühmten Streicherserenade.

Onegin – das ist auch ein sentimentales, romanzenhaftes und elegisches Stück. Da passt keiner besser als Schostakowitsch, der Sätze aus seinen Ballettsuiten sogar direkt so überschrieben hat. Da es in der Liebe zwar schnell funken, aber dann auch kompliziert werden kann, empfiehlt sich „Eile mit Weile“. Siehe da: so hat Arvo Pärt, der Este, zu Wendezeiten ein Stück überschrieben (wenn auch in der Altrömerfassung „Festina lente“). Fehlt noch die Stimmung altrussischer Landgüterlandschaften – da passen Sibelius (traurige Birken gibt’s auch in Finnland) und die „Landschaft“, die der Britenpole Andrzej Panufnik in Noten nachempfunden hat.

Dazu ein ordentlicher Festverlobungswalzer zu Beginn (Olgas Verlobung ist eine dramaturgisch geschickte Zutat von Feistel). Den liefert Chatschaturjan, den die Philharmoniker im Augenblick eh gut draufhaben, weil sie eine CD mit Musik des Armeniers vorbereiten. Und am Schluss? Da bleiben nicht alle Fragen offen, aber die wesentliche: Sie liebt mich immer noch, fragt sich Onegin, warum will sie mich dann nicht? Die Frage bleibt unbeantwortet. Zu Ives‘ „The unanswered question“ schließt sich der Vorhang.

Eine solche Musikauswahl hat Vor- und Nachteile. Das größte Plus: Sie schafft Stimmung – jedes Mal adäquat ein Abbild der Seelenlage der Akteure in Musik. Ganz davon abgesehen: die Auswahl, modern, aber nicht zu modern, ist auch musikalisches Credo für Feistels Regie- und Choreografiestil insgesamt. Da passt denn auch alles. Nachteil: Die Komponisten haben ja nicht daran gedacht, dass etwa ein Sinfoniesatz getanzt würde. Und so geraten manche der Episoden, in denen Feistel die  Geschichte Onegins erzählt, doch ein bisschen lang. Und trotz der zigtausend Einfälle des Meisters bleiben Wiederholungen nicht aus.

Macht nichts. Sie werden erinnerungswürdig überlagert von traumhaften Figuren, Schritten, Bildern. Der Blindekuh-Walzer, der Kampf zwischen Onegin und Lenski, der präpotente Allesbesserkönner Triquet, der sich bisweilen als Lachnummer tanzen muss (herrlich wieder: Leonardo Fonseca). Die abrollenden Protagonisten, das kollektive Kopfschüttel-Nein des (Landadel-)Ensembles, das Kartenspiel, das Duell – und als Kontrast zu den herrlichen Bewegtbildern das rührende Standbild Onegins am Schluss zur bewegtbewegenden Sprache (!) aus Tatjanas Liebesbrief. Eindrucksvoll.

Für die Hauptrollen sind Doppelbesetzungen vorgesehen – fast alle Ensemblemitglieder werden so im Lauf der kommenden Aufführungen aus dem Ensemble in den Vordergrund tanzen. Emilijus Miliauskas, bei der Premiere ein großartiger Lenski, wird demnächst auch die Rolle seines Gegenspielers Onegin tanzen, den am Samstag Milan Maláč verkörperte. Die meisten Soli am Premieren-Samstag waren Ensemblemitgliedern anvertraut, die schon etwas länger da sind als die „Neuen“…

Die Konstellation des Puschkin-Romans erzwingt geradezu Pas de deux und Pas de trois. Feistels Episoden-Erzählweise verlangt von den Tänzerinnen und Tänzern aber nicht nur die Beherrschung von Schritten, Hebefiguren und Akrobatik (und Abstimmung und Harmonie bei Ensembleszenen, da scheint noch ein bisschen Luft nach oben), sondern auch schauspielerisches Talent. Das zeichnet neben den leichtfüßigen wie kraftvollen tänzerischen Qualitäten nicht nur die Damen aus (Alanna Saskia Pfeiffer als Tatjana und Isabel Domhardt als deren Schwester Olga), sondern auch die Herren Onegin (Milan Maláč), Lenski (Emilijus Miliauskas – auch und gerade in seiner Rolle als wiederkehrender Geist), Fonseca als Triquet natürlich,  aber auch Benjamin Kirkmann als Oberst Gremin – der Mann, an den der ohnmächtige Onegin schließlich „seine“ Tatjana verloren hat. Hätte er mal früher auf sie gehört, als er gefühlte Minuten den Liebesbrief las, unbeirrbar von der sich demütigenden Tatjana, die er wie eine lästige Fliege wegwischt.(starke Szene). Schön der Einfall übrigens mit der Einblendung von Puschkins Schrift – nur, muss ein Geheimnis bleiben, was da geschrieben stand? Selbst Langjahrschulrussischgequälte hatten da Mühe. Und erst alle, für die kyrillische Buchstaben Bücher mit sieben Siegeln sind.

Schöne Kostüme, einfaches, aber charakteristisches Bühnenbild (beide von Klaus Hellenstein) – und eine gut aufgelegte Robert-Schumann-Philharmonie, die sich beim Pizzikato-Tschaikowsky (4. Sinfonie, 3. Satz) unter der Leitung von Stefan Politzka so präzise gab wie anpassungsfähig in den schwierigleisen Pärt-Stücken und perfekt emotional in den vielen Instrumentensoli (Trompete, Cello, Geige, Flöte, Klarinette, Harfe). Starke Ensembleleistung im Graben wie oben auf der Bühne.

Viel Beifall. Herzlicher Beifall. Auch und gerade für die „Neuen“.

Die Handlung
Die nächsten Aufführungen: 5. Dezember, 5. und 31. Januar 2016, 21. Februar 2016