„Nussknacker“: Requiem für einen großen Choreografen

Die persönliche Betroffenheit war Generalintendant Bernhard Helmich anzumerken, als er vor den Vorhang trat. „Mit Ulrich haben wir einen der bedeutendsten deutschen Choreografen verloren”, sagte er. Ulrich habe nicht nur durch einzelne Choreografien von sich reden gemacht, sondern durch seine Ästhetik und seinen Stil das moderne Tanztheater entscheidend geprägt. Viele Ballettdirektoren und Choreografen in ganz Europa haben Ulrichs Seh- und Arbeitsweise als dessen Schüler in den 70er- und 80er-Jahren in Köln kennengelernt. Auch Lode Devos, der Chemnitzer Ballettchef.

Als Agnes Schmetterer, die eine wunderbar anrührend und gleichermaßen kämpferische Marie getanzt und gespielt hatte, Lode Devos zum Schlussapplaus auf die Bühne holte, war klar geworden, dass der Schüler und die für die Einstudierung zuständige Darie Cardyn ihrem Meister mit dieser Premiere, die die Chemnitzer Theater Ulrich gewidmet hatten, Ehre gemacht haben.

Ulrichs Fassung von „Nussknacker und Mäusekönig” hat nichts mit dem altgewohnten Bolschoi- oder Marinskij-Tütü zu tun. Und nichts mit Schneeflöckchen und Raachermanneln. Hier herrscht der Kampf vor auf Leben und Tod zwischen dem räuberischen Mäusekönig und dem ritterlichen Nussknacker. Aber auch der Kampf im Inneren eines pubertierenden Mädchens, das vom Kind zur Frau wird, auflodert, und sich an der neu gelernten Sexualität (zumindest fast) verbrennt.

Ulrich verlangt entsprechend äußerste Bewegung, viel Kraft, bisweilen Akrobatik vom ganzen Ensemble. Und während den Zuschauern schon vom Zuschauen die Puste wegblieb und es ihnen vor den Augen fast schwindelig wurde, war die Truppe auf der Bühne höchst präsent, im Detail jeder Einzelaktion und im Ensemble. Wunderbare Bilder, die eine Geschichte erzählen, wie sie E.T.A. Hoffmann nicht geschrieben hat (auf den das Libretto zurückgeht), wie er sie in seinen (Rauchbier-)Rauschträumen in Bamberg aber hätte erfinden können. Klasse Leistung der gesamten Kompanie.

Im Graben ein weiterer Mann, für den das ein ganz besonderer Abend war. Tobias Engeli, noch 1. Kapellmeister am Theater Plauen-Zwickau, gehört, wie seit dem Eröffnungs-Open-air-Konzert bekannt, zu den Anwärtern auf den begehrten, seit Domonkos Hejas Weggang nach Budapest verwaisten Kapellmeister-Posten in Chemnitz. Er lieferte eine solide Arbeit ab. Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie steckten bisweilen sogar den Kannstschonfastnichtmehrhören-Ohrwürmern aus Tschaikowskys neue Glanzlichter auf.

Der „Nussknacker” wurde zum Requiem. Klage, Sieg, Tod und Erlösung. Die schon 1989 in Köln entstandene Choreografie, die 2006 in Linz, wo Ulrich Ballettdirektor war, Premiere hatte, erwies sich in Chemnitz so stark und gültig wie vor mehr als 20 Jahren. Helmich hat Recht: Ulrich war ein ganz Großer.