Pecunia non olet – Geld stinkt nicht, fand dermaleinst Kaiser Vespasian (7-79 n.Chr.), ließ öffentliche Pissbecken aufstellen und belegte die Toiletten mit einer Steuer. Stinkende Gülle in Güllen – nö, das wollten der Regisseur und sein Bühnenbildner Nikolaus Portz dem Chemnitzer Publikum denn doch nicht zumuten. Stattdessen füllte echter, glitschiger, dreckiger Morast die Bühne – und so wateten die ach so gerechten Güllener Notablen mit goetheglänzendem Augenfunkeln („Zum Golde drängt, am Gold hängt doch alles“) und mit ihren neuen goldgelb glänzenden Schuhen, Schlipsen und Fliegen, Jacketts und Kostümen (Kostüme: Katharina Beth) durch den Schlamm, bekleckerten die neuen Klamotten und ihre Seelen. Verurteilten den deshalb todgeweiht kranken Ill (ill – engl. krank, Dürrenmatts Namen sprechen…), den angesichts der Ewigkeit einzig Gesunden, zum Tod durch gemeinsamen Mord. „Alle für einen, einer für alle“. So waren sie einst angetreten, und hatten doch was ganz Anderes damit gemeint…
A propos Namen: In Dürrenmatts nach dem Weltkrieg erst recht reicher Banken-Schweiz waren Basil Zaharoff, der seine Milliarden mit Waffengeschäften verdient hatte, dessen griechischer Landsmann und Reederkönig Aristoteles Onassis und der armenische Ölmilliardär Calouste Gulbenkian gern gesehene Besucher. Sie waren alle auch Mäzene, wollten alle was gut machen, so wie Claire Zachanassian, die alte Dame, für deren Namen Dürrenmatt die Namen der alten Herren Geldprotzen ausgeweidet hatte. Dabei hatte die Dame früher mal als kleine Güllener Schönheit Kläri Wäscher geheißen. Jetzt würde sie, dachte sich Dürrenmatt die Figur, den Schmutz, der einst auf sie geworfen worden war, klar waschen. So wie die Wäscherei Friedel die Klamotten der Schauspieler, wofür ihr das Theater im Programmheft (Friederike Spindler, Anna Bertram) ausdrücklich dankt…
Diese Anspielung hätte Dürrenmatt gefallen – er wollte nicht die Welt verändern wie sein ernster schweizer Kollege Max Frisch. Angesichts der Atombombe (Hiroshima und Nagasaki waren gerade mal zehn Jahre her, als Dürrenmatt 1955 sein Stück schrieb) schienen ihm die kleinen und großen menschlichen Nöte grotesk, lächerlich. Die Zeit der Tragödien war vorbei. Das unausweichliche Schicksal hatte Gestalt angenommen – in der Bedrohung durch die Atombombe, die Bürokratie und Hierarchie (Grieche sucht Griechin) oder eben – das Geld. Gegenüber solchen Herrschern aufzubegehren, macht stärkstes kleines Menschlein lächerlich. Das Leben wird zur Tragikomödie. Mit Mitteln der Komik würde der Denker Dürrenmatt seine Mitmenschen zu Denken bringen. Dachte er. Wenn sie es denn wollten. Wenn nicht, sollen sie. Die Tragödie kommt sowieso.
Malte Kreutzfeldt tat gut daran, auf alle aktuellen Bezüge zu verzichten. Keine Anspielung auf Internetblase, Lehman Brothers oder die Boni von VW-Topmanagern. Das Stück ist auch so stark genug. Und hat viele komische Elemente, die dürrenmattgewollt das Publikum zu Emotionen zwingen. Zum Lachen etwa. Bis es im Mund erstirbt. Tragikomisch…
Kreutzfeldt ist ein sehr präzise arbeitender Regisseur. Er choreografiert das Schlammballett, in dem sich die Güllener gemein und gemeinsam dreckig machen gegen Ill genauso sorgfältig, wie er Claire Zachanassian in Szene setzt. Er lässt (ob’s sein muss oder nicht, die Leute haben gelacht) den Polizeichef (Dominik Förtsch) mit dem Bürgermeister (Jan Gerrit Brüggemann) sumpfwresteln, bis sie (puh, muss das spannen auf der Haut) sich in ganzer dreckiger Schönheit balzend der himmlischen Geldbotin mit dem Holzbein präsentieren können. Er lässt die Fußsohlen des „oben“ im noch sauberen Haus eremitierten Ill drohlich klacken, während draußen der schmutzige Kampf mit den lehmversudelten neuen gelben Schuhen Urstände feiert.
Manchmal übertreibt er auch. Etwa wenn der Lehrer (großartig Stefan Schweninger) sich per genialem Armhebelzug zittrig den Steinhäger an den vor schlechtem Gewissen schlabbernden Mund führt, oder wenn die Güllener vor dem Minizug, der auf der Bühne vorbeirattert, sich kein machen, um zu demonstrieren, dass die große Welt sie vergessen hat, und die großen Expresszüge alle ohne Halt vorbeirauschen, obwohl Goethe doch hier mal übernachtet, und Brahms ein Streichquartett geschrieben hat. (Goethe war auch mal in Chemnitz. Aber hier rauscht ein ICE noch nicht mal mehr vorbei…). Oder wenn der Polizist sich an der Gummihand der Claire verkünstelt (herrlich doof übrigens, wenn Claire Gummidaumen lutschend den verlogenen Bürgermeistersprech mit Schlaf kommentiert). Die Übertreibungen seien verziehen – wenn die ganzen Robys und Tobys, Kobys und Lobys fehlen, wenn Dürrenmatts hochalpine Übertreibungen in persona wegfallen, dann müssen’s halt andere Gags bringen. (Die Beschränkung auf weniger Personen schadet ansonsten der Aufführung überhaupt nicht…)
Kreutzfeld sorgt für gute Sprache und dramatische Chöre („Einer für alle, alle für einen“ gleich zu Beginn). Aber vor allem: er macht die Stein als Claire bedeutend. Es ist keine richtig große Rolle, die Susanne Stein hier zu spielen hat (in den Filmen ist die Zachanassian viel öfter präsent). Aber wenn sie die Bühne betritt, dann strahlt sie, wieder in richardschem Schwarz, auch mit Holzbein und Gummihand die Souveränität einer nicht nur Geldmächtigen aus. Dürrenmatt hat dem Fluchsegen für Güllen kein schlechtes Gewissen eingeimpft – der Zufall, der immer schlimmstmöglich ins Chaos führt, hat kein Gewissen (auch die „Physiker“ nicht…). Sie ist mit jeder Miene und mit jedem Wort die Rache, wie der Herr (Dürrenmatt) spricht. Großartig.
Schwieriger Part für Andreas Manz-Kozár, der den Ill von der Hoffnung, alles würde wieder gut, über das Erschrecken, die Verzweiflung vor dem Geldkrebstod, die letzte sentimentale Ausfahrt (einfach aber gut das Auto-Dreieck mit Frau (Ulrike Euen) und Tochter (Maria Schubert)), über die henkersmahlzeitersetzende Zigarette bis zum Ende im Schlamm zu spielen hat. Manz-Kozár ist ein durch und durch glaubwürdiger Ill, sich selbst so treu bleibend, wie die Hosenträger angewachsen scheinen.
Mit der großen Geld-/Goldkugel ist dem Bühnenbildner Nikolaus Porz ein großer Wurf gelungen. Erst leuchtend wie die Glück verheißende Sonne, heruntersinkend in die greifbare Erwartung des Geldsegens, das dreckig werdende Geld, die Bedrohung, die von ihm ausgeht, und die die unselige Bürgermeistergattin im Schlick zu ersticken scheint – während der von Claire Z. augen- und eierlos gemachte Butler die Trauerlilie über die Bühne trägt und sie in der Ecke abstellt. Für echte Trauer gibt’s keinen Platz, das Mausoleum mit der Urne auf Capri wird nicht Trauerstätte, sondern Siegestempel für Claire sein. Sie, Göttin Zufall, die kleine Kläri von einst, hat dann auch alle Schuld vom kranken Ill abgewaschen…
Keine Ahnung, warum dieser Dürrenmatt so zieht. In den Schulen steht er – seit der Wende abwechselnd mit den „Physikern“ – im Lehrplan. Viele haben vielleicht die Filme gesehen (1959 mit Elisabeth Flickenschild, 1963 mit Ingrid Bergmann, 1982 mit Maria Schell, 2008 mit Muriel Baumeister). Andere kennen den Titel. Wie auch immer. Kreutzfeldt musste sich entscheiden, mache ich das Stück für die, die es kennen, oder für die, die es kennenlernen wollen. Er wählte die zweite Gruppe. Wollte die Spannung aufrecht erhalten bis zum Schluss. Gibt’s doch noch die Wende? Macht Claire beim letzten Gespräch im ehemaligen Liebeswald vielleicht doch noch einen Rückzieher von ihrer Forderung? Kommt noch ein brechtscher reitender Bote oder ein Hollywood-Ende? Für die Besucher, die das Stück kennen, ging’s vor der Pause zu schnell. Sie hätten gern – mit dem Original – die langsame psychische Goldvergiftung der Güllener noch intensiver miterlebt. Für sie zieht sich’s hintenraus ein wenig. Man weiß ja eh, worauf’s hinausläuft…
Großes Stück, aktuelles Stück auch noch 60 Jahre nach der Uraufführung. Große Premiere. Vorschusslorbeeren zu Recht.
Randbemerkung:
Die Riesenwanne Schlamm auf der Bühne muss gefüllt und nach der Vorstellung wieder geleert werden. Händisch. Mit Schaufeln, in Eimern. Hinausgetragen werden, schwer wie sie sind. Großes Kompliment an alle hinter der Bühne. Harter Job! Und die Schuhputzerinnen und Schuhputzer… O Gott, ich darf gar nicht dran denken.