Irgendwann gegen zwei heute Nacht postete eine fertige, aber glückliche Anja Bihlmaier auf Facebook: „Vielen Dank allen Beteiligten für die prima Vasco-Vorstellung! Das war ein Erlebnis!!!“. Dem ist wenig hinzuzufügen. Doch: Guibee Yang, nach einer Mütze voll Schlaf heute am frühen Morgen: „Du warst so toll:)))))) echt stolz auf dich.“
Sie kann auf sich selbst stolz sein. „Nein, das glaub ich Ihnen nicht“, sagte ein Lüneburger in der Pause zu mir (ist extra für die Wagner-Tage angereist), „die kleine blonde Inès soll eine Koreanerin sein?“ Doch, ist so. Reizend die Admiralstochter in ihrem standesgemäßen Puppenkleid mit der blonden Perücke. Glasklar die Stimme, jeder Ton-Sprung kommt mit Leichtigkeit über die Lippen, als singe sie ungehört im Badzimmer, Mademoiselle artikulieren ein perfekt verständliches Französisch, und wenn sie ganz traurig ist, schwingt das in die Phrasierungen hinein. Die kleine Guibee Yang ist ganz groß. Fast besser noch als bei der Premiere. Weil eine Freundin dirigiert hat, eine Frau, die besser versteht als ein Mann, was im Herzen einer glücklichen, unglücklichen, sehnsuchtsvoll verliebten Frau vorgeht?
Frank Beermann, der Chemnitzer GMD, hatte zusammen mit dem Intendanten Bernhard Helmich die Erstaufführung von Vasco de Gama für Chemnitz gesichert. Die Premiere wurde ein grandioser Erfolg, deutschlandweit und darüber hinaus beachtet, von DeutschlandradioKultur an zwei Abenden in voller Länge übertragen. (Werbung at its best für Chemnitz, nebenbei gesagt). Auf der Fördervereinsseite stand der erste Bericht über die Premiere, dort sind auch die Links zu wichtigen Publikationen. Eine davon hatte eine Dame aus Frankfurt gelesen („eigentlich bin ich ja aus München“) und gleich zwei Freunde aus Berlin und Hamburg mitgebracht. Vorher Chemnitz nie wahrgenommen, jetzt ein solches Erlebnis: „Das hier ist ein Stadttheater? Wow! Die Reise hat sich mehr als gelohnt“ – die einhellige Meinung des Trios.
Beermann verzichtete diesmal auf Ruhm und Applaus. Am Donnerstag Tannhäuser, heute Premiere Parsifal, morgen Tristan – dazwischen noch Vasco, das wäre selbst für den robustsensiblen Chemnitzer GMD zu viel gewesen. Also durfte/musste Anja Bihlmaier ran. Auf dem Besetzungszettel stand sie schon immer (auch diesmal ulkiger Weise): hinten, als „assistierende Kapellmeisterin“. Doch diesmal stand sie auch ganz vorn und oben: Sie dirigierte, hatte die musikalische Leitung.
Natürlich hat sie die Partitur drauf, als Assistentin des „Meisters“. Aber jetzt, vor diesem sachkundigen Publikum, vor den vielen Gästen von überall her, vor dem Moloch Orchester stehen und dafür sorgen, dass jede der Millionen Noten zum richtigen Zeitpunkt richtig und in richtiger Lautstärke kommt und daraus ein großes, spannendes Ganzes wird, das ist schon eine besondere Herausforderung.
Anja Bihlmaier ging die Aufgabe mit großem Respekt an. Bisschen Horn am Anfang, fast leere, schwarze Bühne, zwei einsame verlorene Frauengestalten – bei Meyerbeer gibt’s nicht gleich einen Befreiungsschlag für den Dirigenten und sein Orchester. Da muss man sich hineinfühlen, den Weg suchen, wie man den Funken findet, der überspringt ins Publikum – in Hörer, für die „Vasco“ noch ein Buch mit sieben Siegeln ist – auch wenn sie, was verfügbar gelesen, auch wenn sie Carla Neppls amüsante Einführung im Rangfoyer gehört hatten, der Meyerbeer ist den Ohren nicht vertraut.
Auch das Orchester hat den Part drauf. Die Robert-Schumann-Philharmonie hat die Oper zusammen mit den Sängern unter Studiobedingungen eingespielt – vor unbestechlichen Mikrophonen. Die Frage war jetzt nur, würden Orchester und Dirigentin zusammengehen, zueinander passen?
Ja. Eindeutig ja. Und mit jeder Note mehr. Bald war eine Selbstverständlichkeit im künstlerischen Wollen erreicht, die am Schluss mit riesigem Beifall für das Orchester – und seine Dirigentin – honoriert wurde. Der Funke war längst übergesprungen. Schade, dass Anja Bihlmaier geht (ab nächster Spielzeit, nach Hannover).
Aber noch einer wurde regelrecht umtost von Beifall: Adam Kim, der einen grandiosen Nélusko abgeliefert hat. Schon Pierre-Yves Pruvot hatte bei der Premiere diese wunderbare Rolle des bitterbösen, zähneknirschend auf seine geliebte Königin verzichten müssenden Sklaven ausgekostet, ausgespielt und ausgesungen, wie’s besser kaum geht. Aber Adam Kim hat tatsächlich noch einen draufgesetzt.
Meyerbeer war Jude. Wagner wurde deshalb ausfällig gegen ihn (nebenbei: den Erfolgreicheren). Die Nazis verboten Meyerbeer-Aufführungen. Der Anfang des 19. Jahrhunderts bekannteste und wie ein Popstar gefeierte Komponist war in der Versenkung verschwunden. Hie und da mal eine Aufführung seiner „Hugenotten“, seines „Robert- der Teufel“. Aber die meisten großen Häuser wünschten Meyerbeer ein RiP: in Frieden solle er ruhen.
Bis Beermann die neue kritische Ausgabe (der „Afrikanerin“) stieß und die Chemnitzer Theater die Rechte für die Erstaufführung des nunmehr wieder „Vaso de Gama“ genannten erwerben konnten. Und damit zum ersten Mal die Oper so aufführen konnten, wie sie Meyerbeer wohl aufgeführt hätte, wäre er nicht kurz vor der Uraufführung 1864 in Paris gestorben.
Meyerbeer hat eine Renaissance verdient. Und wenn sie kommt, hat Chemnitz mit dieser grandiosen Produktion des „Vasco“ einen ganz großen Anteil daran. „Gott, war das schön“, sagte der Lüneburger beim Rausgehen zu seiner Begleiterin. Sie hatten die mehr als doppelte Marathon-Zeit längst vergessen. Was soll’s auch. Fünf Stunden, 20 Minuten? Der Komponist ging mit seinem „Vasco de Gama“ knapp 30 Jahre schwanger…