Jubel klatschte Buhs schnell nieder

„Nö, ich geh heute nirgendwo mehr hin. Ich krieg keinen Bissen runter”, sagte eine Dame. Und ein Herr am Sonntagmorgen: „Sag mal, spinn ich? Versteh ich was nicht? Gott sei Dank haben wir im Fernsehen noch ein Stück vom Dresdner Parsifal in Salzburg gesehen. Da ging’s uns wieder gut.” Na denn, lassen wir Parsifal Thielemann in Salzburg den Gral suchen. „Durchwachsen” nennt dpa die Aufführung an der Salzach. Der Rezensent hat wohl Hunger nach einem Stück Rindfleisch. Vielen Buuuh-Besuchern an der Salzach ist der Appetit auch vergangen.

In Chemnitz war nichts durchwachsen. Das war gruseliges, gründliches, grausames Spiel.

Warum zum Teufel fällt mir jetzt Til Schweiger ein und sein blödsinniges hollywoodiges Rumgeballere im letzten Tatort? Warum dagegen haben die Deutschen plötzlich einen Narren gefressen an gruseligen Krimis aus gruseliger nordischer Landschaft, wo bisweilen die Wölfe heulen? Und warum lieben sie Hitchcocks „Vögel”? Sind sie nicht grausam? Oder die Millennium-Trilogie?

„Da wollte einer die Chemnitzer das Gruuuseln lehren”, hörte ich eine Dame nach der Aufführung sagen, iggittich das uuu dehnend. Darf Oper nicht grausam und gruselig sein? Und was ist mit dem Sadisten Mozart, der die holde Tamina durchs Feuer schickt, Don Giovanni mal rasch einen Mord begehen lässt, damit er seine Angebetete flachlegen kann, oder mit der Mszensker Lady von Schoschtakowitsch, die im 2. Akt auf offener Bühne vergewaltigt wird? Und wenn wir schon grade bei Macbeth sind, da geht’s richtig blutig zu. Und überhaupt: bei Shakespeare läuft viel mehr Lebenssaft todbringend aus (Heinrich VIII!) als beim Fast-Zeitgenossen John Webster.

Nein, Menschen können böse sein. Auch Kardinäle, denen die Erbsünde weggetauft wurde. Wie Lodovico, der versaute Bruder der Gräfin von Malfi, der seine Hure im Sündenbett unschuldige Messdiener-Gewänder überstreifen lässt (ganz kann Regisseur Dietrich W. Hilsdorf aktuelle Anspielungen nicht sein lassen). Was hat Kouta Räsänen da auch schauspielerisch für eine Figur abzugeben! Da kannste nicht alles mit deiner Stimme machen, und sei sie noch so schwarz.

Oder Ferdinand, der Zwillingsbruder, dem Torsten Rasch die hohe Zwillingsstimme des Counter-Tenors („ich lieb dich, Zwillingsschwesterherz”) ausrutschen lässt nach unten in den Tenor-Müll, wenn er von dem mit Alraune, der Hexenpflanze (der Bühnenbildner Dieter Richter in der großen Inschrift das M des lateinischen Mandragora-Namens geklaut hat) versetzten Blut-Cocktail getrunken hat: „Mein ist dein ganzes Blut”. Ich muss dich haben, du, mit der ich Schwuchtel Sex nicht haben kann. Deinen Bürgersex-Verschaffer und die Bös-Geburten vernichte ich. Meine Genitalien sind die Zähne. Deine Höhle ist der Hals, in den ich mich verbeiße, damit wir Zwillinge eins werden. (Wenn’s einem übel werden muss bei dem Stück, dann Iestyn Morris, der schon bei der Uraufführung den Inzestdreckhammel spielen musste).

Boaah. Übel, was für Typen John Webster bereits vor genau 400 Jahren dem Bürgerpublikum auf dem Silbertablett, das aus rauen Bühnenbohlen bestand, vorsetzte, das noch keinen Tatort kannte, aber auch noch nicht die Bösartigkeit von Menschen, die Massenvernichtungswaffen einsetzen oder sich als Bomben in friedliche Menschengruppen werfen.

Die Welt ist nicht besser geworden seit Websters Zeiten. „Eine Geschichte ist erst dann Zu Ende erzählt, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat”, steht als letzter Übertitel über dem Wegwerfschlussakkord der Oper (da muss mal eine ganz dicke Lanze gebrochen werden für Carla Neppl, die Dramaturgin, für ihre hervorragenden Übertitel, ohne die kein Mensch diese Oper verstehen kann).

Oder gibt es doch Hoffnung? Die Gräfin bleibt gut, weil sie stark ist. Sie stirbt meineidig, aber schuldig? Gutsein kann tödlich sein. Einen Versuch ist es immer wert. Wenn es nur noch Böse gibt, dann ist das Leben ein Todestanz. Schwarz, finster wie die Nacht. Gruftylike. Bestenfalls „morbide”, wie eine Besucherin ihren Eindruck den facebook-Freunden anvertraute. Nein, das ist nicht die Welt, die wir wollen. Kapiert?, fragt John Webster. Glaubt aber selbst nicht dran. Er ist in allen seinen Stücken der wortgewaltige Poet des Bösen.

Eine Krawatte macht noch keinen Guten, weder auf der Bühne noch auf dem Rang. Das weiß natürlich auch Torsten Rasch, der Komponist. Aber wie er da (beim Schlussbeifall) von den Akteuren nach hinten gespült, allein, ohne Krawatte, in schwarz, dasteht, und schaut, wie sein Kraftwerk angekommen ist, ob ihn das Publikum verteufelt oder in den Himmel hebt, ob seine Geschichte auch erst zu Ende erzählt ist, wenn alle buuuhen, und als sie es dann nicht tun, und als der Beifall die Buuuher niederklatscht, da gibt’s Hoffnung. Auch, dass diese Oper weltweit ein Erfolg wird.

Raschs Musik ist nichts für den sonntagnachmittäglichen Kaffeeklatsch. Sie ist so brutal wie die Figuren, mit grunzendem Kontrafagott und unschamhaftem Tubagefurze. Sie piepst und kreischt in Flöten und Holz wie Türangeln, die Karamba brauchen. Sie sägt das Vibrafon, haut die Streicher, denen der gute Ton anvertraut ist, mit japanischem Schlagwerk in Extrasystolen – wabert, knallt, prunkt, säuselt. Rasch hat alles drauf. Hat viel Musik für das Off komponiert. Er kann jede Filmszene füttern.

Ob die Musik Bestand hat ohne Bilder auf der Bühne oder Leinwand, ob man den Choleriker (Ferdinand, den Counter-Tenor), den Phlegmatiker (den Kardinal, der sich’s von der Hure besorgen lässt), den Melancholiker (Bosola, den Mörder mit Gewissen) oder die Sanguinikerin (die Gräfin, um die sich alles dreht) heraushört aus der Musik, das werden wir erleben, wenn im April-Sinfoniekonzert der Philharmonie das „Haus der Temperamente”, eine Suite nach Motiven der Oper von der Robert-Schumann-Philharmonie uraufgeführt wird.

Vor der und vor Frank Beermann muss man wiederum den Hut ziehen. Eben noch mit dem „Vasco de Gama” im Wohlklang schwelgend, bringen sie hier ein vertrackt, ungehörtes Stück Musik aus dem Graben, das fasziniert. Der Chor, der mehrstimmig oh-Jammer und ah-Verwunderung in Glissandi rutschen lässt, choreografisch die Bühne bebildert, die Statisten der Irrenszene – was für ein Augen- und Ohrenspektakel. Die stummen Solistin, die nur körpersprechen dürfen – Dirk Lange als Bologna – im Webster-Original spricht er, da wird die Menieidszene logischer, Muriel Wenger (Zofe Cariola), einfach gut. Das ist aber auch Dietrich Hilsdorf (Regie) zu verdanken, der in den DVD-geeigneten-Bildern von Dieter Richter, jede noch so kleine Szene nutzte, um zu erzählen, Bilder zu malen.

Aber vor allen herauszuheben die Solisten. Verständlich, dass sich neben Frank Beermann und den Philharmonikern gleich vier Musiker um die Einstudierung kümmerten – wie haben sie/er den Ton wieder gefunden, fragt sich der erstaunte Hörer. Tiina Pentiinen, die Herzogin, präsent in allen (Lebens-lagen), selbst im Sarg, Iestyn Martin (als Gast), der zum Werwolf mutierendende Stimm-Mutierer, Kouta Räsänen, der schwarze Bass-Widerling, Andreas Kindschuh, selbst als Totengräber brechtisch prächtig kommentierend – Gott, was müssen wir dankbar sein, dass Chemnitz ein solches Ensemble hat.

Punchdrunk heißt die englische Gruppe, die die Oper 2010 in London uraufgeführt hat. Punchdrunk heißt bis zur Besinnungslosigkeit stockbesoffen. Oder benommen. Auch das Publikum in Chemnitz brauchte benommen ein paar Sekunden, ehe es klatschte – oder buhte. Aber das Buhen war eher kläglich. Der Beifall hatte es schnell niedergeklatscht.

In London waren zwölf Vorstellungen vorgesehen. Die Tickets waren innerhalb von vier Stunden verkauft. Dass auch die Chemnitzer so mutig sind, sich diese böse Oper anzuschauen – es wäre zu wünschen. Ob sich ein Stück auf den Spielplänen hält, wird meist nicht bei der Uraufführung entschieden, sondern bei den Produktionen danach. Die deutsche Erstaufführung in Chemnitz hat dafür einen breiten Weg gebahnt.

Die nächsten Termine:

Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie, u.a. mit der Uraufführung von Torsten Raschs
„Das Haus der Temperamente”, Suite aus der Oper „Die Herzogin von Malfi” (Auftragswerk der Theater Chemnitz) am 17. April, Stadthalle Chemnitz

“Die Herzogin von Malfi” am 28.3., 6., 20., 26. April, Opernhaus

 

Über die Aufführung am 6. April schrieb der “Neue Merker”