Lulu in Chemnitz: Lübbe nimmt bitterböse Inszenierung mit nach Leipzig

Enrico Lübbe hat zum Abschied als letzte Premiere in Chemnitz nicht einen Kracher ausgewählt, der ihn nochmal aufs Podest hebt, keinen großen Klassiker, keine Komödie. Er hat auch nicht selbst inszeniert. Ganz Diener seiner Schauspieler ließ er sie brillieren. Dazu ist das böse Wedekind-Drama bestens geeignet.

Die Produktion ist eine Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig. (Das Bühnenbild stammt schon von dort). Auf Deutsch: Lübbe muss was im Gepäck haben, wenn er in Leipzig ankommt. So wie Lübbe-Nachfolger Carsten Knödler mit „Wer hat Angst vor Virginia Woolf” eine Produktion für die nächste Spielzeit, seine erste als Schauspieldirektor in Chemnitz, bereits sicher hat.

Die ganze Crew der „Lulu” geht mit Enrico Lübbe nach Leipzig. Die Leipziger werden fabelhafte Schauspieler erleben, die in „Lulu” alles geben. Restlos alles. Einen der acht Männer hervorzuheben, wäre unfair. Die Frau muss herausgehoben werden: Runa Pernoda Schaefer. Die Lulu, die die ganzen 2 Stunden, 7 Minuten auf der Bühne agiert, ohne Pause. Die alle Spielarten von der kleinen Lolita zur abgetakelten Hure spielen muss. Die reizend sein muss und böse. Schnurrend und fotzig. Flüsternd und schreiend. Die den Männern, die ihr verfallen (oder verfallen sollen) an den Kragen geht oder an den Schwanz. Mit allem was sie ist und hat. Auf dem Körper und darunter.

„Lulu” trägt in Chemnitz (Kostüme: Amelie von Bülow) Latex. Oder Gummi. Weil der – theoretisch – alles Böse fernhält. Aber was ist Liebe (oder Sex) mit Gummi? Die Männer greifen sich in die uniformierten Unterhosen (weil sie alle gleich versaut sind?) und besorgen sich’s selbst, weil sie Lulu nicht kriegen und zur Liebe unfähig sind. Das ursprünglich saubere, jungfräuliche Wasser (tolles Bühnenbild: Irina Schicketanz) wird vor lauter Waschen der Hände in Unschuld und anderer Köperteile zum dreckigen Sündenpfuhl, in dem „Lulu” am Schluss am Ende ist. (Zu Recht verzichten die beiden Bearbeiter auf Jack the Ripper, den Aufschlitzer, den Prostituiertenmörder aus England, der vor hundert Jahren noch in der ganzen Welt – obwohl oder weil nie gefasst – Schlagzeilen machte, und dem Wedekind auch noch den Mord an seiner „Lulu” in die Theater-Fiction-Schuhe schob).

„Lulu” kommt in Chemnitz als böses Stück auf die Bühne. Böser als in Wedekinds Original. Derb ist schon kein Ausdruck mehr. Brutal wäre falsch. Die brutalen (Vergewaltigungs-)Szenen werden unter Stroboskope-Licht gefilmt und eher angedeutet. Wenn der Maler Schwarz (unnachahmlich Tilo Krügel) erschossen wird, sieht man nur das Blut spritzen (im Original schneidet er sich Schwarz selbst die Kehle durch und schwimmt im Blut). Nur was mit Sex zu tun hat, führt Regisseur Nuran David Calis in extenso vor. Fast bis zum Überdruss.

Das war für viele Zuschauer „ein bisschen viel”. „Muss Theater, dieses Theater, dieser Wedekind so unästhetisch sein?”, fragte beim Hinausgehen einer seinen Nachbarn. Wie „sittenlos” muss Theater (oder Belletristik) heute sein, um Säle zu füllen (oder in wenigen Tagen Bestsellerlisten erklimmen wie „Shades of Grey”? „Lübbe hätte das feiner inszeniert”, antwortete der Nachbar. Hätte er?

Frank Wedekind hat vor genau 100 Jahren zwei etwas früher geschriebene Stücke („Erdgeist” und die „Büchse der Pandora”) zu „Lulu. Tragödie in 5 Aufzügen” zusammengefasst. Schon die „Pandora” hatte einen Skandal verursacht – weil angeblich unzüchtig. Wedekind rechnete auch bei „Lulu” mit einer Anzeige wegen Verstoßes gegen die Sitte. Was zu Kaiserzeiten als Verstoß galt, dürfte heute – nach der sexuellen Befreiung seit den 60er Jahren – nur ein müdes Lächeln hervorrufen. Wenn in dem Stück nicht so viel Substanz (ja, vielleicht auch versaute Kraft) steckte, dass „Lulu” sogar „Shades of Grey” toppen könnte. Calis und Holland-Merten, die Wedekinds Tragödie bearbeitet hatten, haben das hingekriegt. Sie haben den Sex nackig gemacht, entblättert bis zur Widerlichkeit. Noch so viel Sado-Maso zwischen Buchdeckeln schafft das nicht. Mit einem Glas Rotwein, auf dem Sofa, bleibt „Shades of Grey” gegenüber den Erektionen auf der Chemnitzer Bühne Pipikram.

Aber: Ist der Umgang mit Sex heute noch ein Theater-Thema? Kann man sich für Sittlichkeit was kaufen? Preußens Zack-Zacker konnten das. So musste das Volk dumm und klein gehalten werden: Wer seine Erotik und Sexualität unterdrücken ließ, muckte auch sonst nicht auf. Gegen Beamte, den Kaiser gar, und marschierte stramm gehorsam in den Weltkrieg. Vor hundert Jahren rief die „Sittenlosigkeit” eines Wedekind zur offenen Rebellion auf, rammbockte die Basis der Gesellschaft. Wedekind wurde auch einmal wegen eines Gedichtes der Majestätsbeleidigung angeklagt. Klar, wer schon gegen die guten Sitten verstößt, achtet auch Gott, den Preußenkaiser, nicht mehr.

Heute, mal ehrlich: regen Berlusconi s Bunga-Bunga-Partys wirklich noch auf? Was ist – nach heutiger „Sitte” – schlimmer, dass VW-Manager Sexpartys veranstalten (oder Versicherungsvertriebler Prostituierte kauften), oder dass sie dafür in die Firmenkasse griffen? Strauss-Kahn, der vielleicht Währung hüten, aber nicht sein bestes Stück in Zaum halten konnte, Bill Clinton, der sich von Monica Lewinsky sein Präsidentenstück befummeln ließ – ja: wen hat’s wirklich aufgeregt, und was dabei? Wer hat nach den Mädchen gefragt – sind sie alle Verführerinnen gewesen, (Un-)Schuldige, die Männer zum Straucheln bringen wie Lulu?

Wäre die Regie nicht schon fertig gewesen, hätten sich die Autoren vielleicht angesichts des Krachs um Homo-Ehen in Frankreich doch noch überlegt, Alwa (hier: Sebastian Tessenow) wie in Wedekinds Original als Homosexuellen spielen und von Lulu ans Hetero-Ufer ziehen zu lassen.

Sexualität ist heute noch ein Thema. Keiner schaut Pornos an, aber die Klickzahlen von Pornokanälen gehen minütlich in die Millionen. Offen ist auch heute der Umgang mit Sexualität nicht. Mit der „Sittenstrenge” der Wedekind-Zeit hat das nichts mehr zu tun. Sitte ist kein politisches Zwangsmittel mehr. Aber immerhin ein nettes Mäntelchen für gute Bürger. Das reißt die Chemnitzer, bald Leipziger, Lulu den Figuren gnadenlos runter, bis sie nackt dastehen. Und wir? Für uns ist das nur Provokation. Wir dürfen sogar unsere Krawatten anbehalten…

Als Enrico Lübbe zum neuen Schauspielintendanten in Leipzig gekürt wurde, wurde ihm sofort von Kultur-Gutbürgern Provinzialität unterstellt. Mit der Chemnitzer „Lulu” bringt er den Gegenbeweis mit. Wir sind gespannt, wie das Publikum dort reagiert.

*

Die acht großartigen männlichen Schauspieler in der Chemnitzer Premiere waren Tilo Krügel (Schwarz/Heilmann), Matthias Hummitzsch (Goll/Puntschu), Hartmut Neuber (Schön/Magelone), Sebastian Tessenow (Alwa), Michael Pempelforth (Casti-Piani), Wenzel Banneyer (Schigolch), Niklas Wetzel (Alfred Hugenberg), Dirk Lange (Gräfin Geschwitz).