You’ll (n)ever walk alone…

Himmel, was war das für eine teuflisch (gute) Premiere am Samstag im Chemnitzer Schauspielhaus! Hans Albers, Harald Juhnke, Curd Jürgens, die Bergmann, die Schygulla, die Jesserer, der Qualtinger – alle haben sie schon in „Liliom“ gespielt. Das Stück des Ungarn Ferenc Neumann, der sich später Molnar nannte, wurde vor genau 100 Jahren erstmals erfolgreich aufgeführt. Drei Jahre lang war vorher die „Vorstadtlegende“ immer wieder nach Strich und Faden durchgefallen. Obwohl alle Protagonisten schon damals das „Volksstück“ mit der Mundart ihres jeweiligen Herrschaften-Parterres überzuckerten. Vorstadt, Dienstmädchen… Fummeln im Karussell. Was die (und der Molnar) da Leben nennen! Die können nicht mal richtig Deutsch. Die wissen nicht, was Schampus ist. Saufen Bier und Schnaps aus der Flasche. Komisch. Wirklich komisch. Andere Welt.

In Chemnitz sprechen sie nicht sächsisch, nicht arzgebirgsch. Sie speechphonen SMSisch, facebooksch, skypsch, DJanisch – nur Smileys lassen sich so schlecht über die Lippen bringen. Vorstadt? Wie gruftig bist du denn? Hauptstadt – Vorstadt? Herrschaft-Dienstboten? Nö. Kiez! Jung ist Kiez. Alt ist „Deck mal den Tisch“ (sagt Julie im Stück), „bring dem Bettler einen Teller Suppe“, und Töchterchen Luise horcht auf’s Wort. Hört den (Bettler-)Vater, aber versteht ihn nicht. Weil sie mit zwölf alt ist. Bürgerlich. Komisch. Wirklich komisch. Andere Welt. (Denken die im Parterre. Die nach dem Premierensekt nach Hause fahren. Und auf die Tochter warten. „Wehe, wenn sie um zwölf nicht hier ist…“).

Die Sprache ist eines der Mittel, mit denen Regisseur Marc Lunghuß, Dramaturg Matthias Huber und die Crew den Chemnitzer „Liliom“ nahfremd machen. Nuscheln gehört dazu (ehrlich: bisschen zu nuschelig am Anfang…) Und wummernde Subwoofer. Und die blendenden Strahler ins Publikum – hej, seid ihr noch dabei? Habt ihr das Bier für die Champions-League-Übertragung bereitgestellt, oder lebt ihr schon?

Liliom ist der Sympath. Solange er Liliom ist und so spricht. Da ist er lieb, fröhlich, dumm, ein Künstler – anders halt (als wir z.B.). Als Andreas, der Taufnamen-Pole, sagt er „Euer Hochwohlgeboren“ und ist nur der Depp. Der Gauner Ficsur kommt als braver Stephan mit verlogenem Bürger(hoch)deutsch in den Himmel. Liliom will nicht Andreas sein. In einen Stephan/Andreas- Himmel will er nicht. Das ist ja wie Hausmeister-Paradies. Hausmeister wollte er auch nie werden. Am Schluss bleibt er auf der Strecke. Ist der Himmel nur für „gute“ Bürger da? Wird der Tisch für Lilioms nicht gedeckt?

Lunghuß stellt – bei allem Spaß an der Freud‘ – konsequent einen gesellschaftskritischen, tief bösen Molnar auf die Bühne. Alle sehnen sich nach Lilioms, den Unangepassten, den ach so Guten, heute und zu k.und-k.-Zeiten. Bald nach „Liliom“, als es auch keinen Kaiser mehr gibt, da singen sie „Komm, Tsigan…“ (heute würden sie nach David Garrett rufen…), weil es der ausgeflippte „Andere“ vielleicht schafft, dass die Damen unter Mieder und Krinoline wieder spüren, dass sie eine Haut haben, die glühen kann, und Brüste, die nicht nur Schaufenster sind, sondern auch Lust schaffen können (und dürfen)..

Wo der Bürgerhimmel zur Farce wird, ist die Erde eine Hölle, wo mephistophelisch eine brustlose Transe (wie Frau Muskat) oder in rosa Hosen der Teufel Ficsur selbst ihr verführerisches Unwesen treiben, wo der biedere kleine Geldbote Linzmann zu einem himmlischen Erzfleischkloß mutiert, wo dem Ordnungshüter am Himmelstor die Tränen kullern, wenn ein fegegefeuerter Ganove ihn anlügt, während er auf Erden mit Polizeigewalt unter der Wäsche grabschend der Dienstmagd sein Recht und seine Ordnung vorführt, wo ein Schlag auf’s Auge Zeichen der Liebe ist, und die Liebe vorbei ist, wenn’s keine Schläge (noch nicht mal mehr in Erinnerung) gibt. Da gibt’s nur noch dünne Suppe. Und selbst tonnenschwere Himmelskörperstücke werden zu glibbriger Oetker-Pampe.

Liliom ersticht sich auf Erden auch nicht mit dem kleinen putzigen Messer, was wäre das für eine Farce! Er lässt sich von der Gewalt des Karussells fliehkräftig ins Fegefeuer-Rosa schleudern – ja, auch das Fegefeuer ist nicht mehr jenes abschreckend heiße Feuergelb und-rot und Qualm und Gestank, das die Sünden ausbrennt. Auch eine rosarote Brille passt nicht zu Liliom. Marie und Wolf machen sich’s da einfacher. Sie steigt mit einem anderen, er mit einer anderen ins Bett. Und schon verstehen sie sich wieder und sind ein Vorzeigebürgerehepaar. Welt verlogen, Himmel verlogen. Und das Fegefeuer eine chemische Verdreckanstalt.

In der Chemnitzer Aufführung fehlt ein Satz. Ganz am Schluss. Der Vater hat die Tochter geschlagen, weil sie sein Sternen-Geschenk verachtet hat. Sie hat den Schlag gehört, aber nicht gespürt. Daraufhin die Mutter (im Original): „Es gibt Schläge, die nicht wehtun, doch es gibt Schläge, die man nicht spürt.“ Heißt: Es gibt Liebe, die verzeiht. Heißt, es gibt Hoffnung auf etwas, was mächtiger ist, als alle Macht der Oberen.

Bei Lunghuß in der Chemnitzer Aufführung fehlt der Satz. Damit ist (Programmheft immerhin „scheinbar“) Liliom ein „unverbesserlicher Mensch“. Und für Typen wie ihn nirgendwo mehr Platz: im Himmel nicht, im Fegefeuer nicht, am bürgerlichen Tisch schon gar nicht. Heißt, keine Hoffnung mehr für Unangepasste. Die Macht des etikettierten Mittelmaßes bleibt unangefochten. Kein Ausbrechen mehr. Julie, die wegen Liliom mal auf Gott und Herrschaft pfiff, sucht einen bürgerlichen Job.

Paraderollen allesamt, die sich auf der Bühne versammelten: Wenzel Banneyer allen voran als rasender und liebender und verspielter Liliom, Runa Pernoda Schaefer, die sich ins Leben kichert und als ledige Mutter am Küchentisch Erfüllung findet, Anna-Sophie Fritz (Marie) – herrlich ihr ratternder, begeisternder Floskelog über die bürgerliche Ehe (gut, dass der Förderverein das Studio gerettet, und dass Enrico Lübbe solche Talente wie Anna-Sophie Fritz nach Chemnitz geholt hat), Karl Sebastian Liebich, Maries Wolf Beifeld (was für sprechende Namen!), Hartmut „Highheel“ Neuber als würzende Frau Muskat, Yves Hinrichs als dämonischer Ficsur und verlogener Himmelspfortenkriecher Stephan, Urs Rechn, der irdisch korrupte und himmlisch korrumpierbare Bulle, nicht zu vergessen die kleine Gwendolin Unger von den KarateMilchTigern als Luise und Christian Neubert, der Fleisch gewordene Erzengel.

Und das alles in einem starken Bühnenbild (Tobias Schunck), das jede Sekunde die Fliehkraft des Karussells Leben suggeriert. (Wenn selbst die Preise für Sessel und Bild im Ikea-Prospekt-Vorhang nicht stimmen, weil nichts stimmt). „Carousel“, so heißt auch das Musical von Rodgers und Hammerstein, das sie nach Molnars „Liliom“ geschrieben haben. Aus diesem Musical stammt der berühmteste Satz des Liliom-Stückes, obwohl er eigentlich gar nicht darin vorkommt. Tausende singen ihn bei jedem Heimspiel an der Anfield-Road in Liverpool, die Celtic-Fans mögen ihn auch, und die von St.Pauli und vom BVB: „You’ll never walk alone“.

Broadway-Musicals brauchen einen versöhnlichen Schluss. Wo Lilioms Sterne vom Himmel holen können, ist niemand allein, dichteten und komponierten Rodgers/Hammerstein hinzu. Der Chemnitzer Liliom walkt immer allein. Weil wir nicht mit ihm gehen können. Weil wir einen Job haben, und Kunden und einen Chef. Und brave Bürger sind (sein wollen/dürfen/müssen).

Zu Recht Beifall über Beifall für Schauspieler und Regieteam. Als letzter hörte Christoph Dittrich auf zu klatschen. Er spürte die Begeisterung der Chemnitzer für ihr Theater, das nächste Woche auch seins sein wird. Und wo er rechnen muss. Und noch einmal rechnen. Und nichts auf den Putz hauen darf, nicht nur nicht bei Kartenspiel. Auch ein Intendant darf nicht Liliom sein.

Die nächsten Vorstellungen: 11. und 24. April, 15. und 22. Mai