Im Mai 1849 gingen in Dresden die Bürger auf die Barrikaden, um den König zu stürzen und eine freie Republik Sachsen mit demokratischer Verfassung auszurufen. Letztlich wollten die Revolutionäre ein Ende der Kleinstaaterei und ein geeintes deutsches Reich mit konstitutioneller Monarchie. König Friedrich August II. machte sich samt Familie nach der Feste Königstein auf die Socken. Das Land war regierungslos. Aber dann kamen die Preußen und schufen Ordnung. Die Revolutionäre mussten fliehen. Darunter Gottfried Semper, Michail Bakunin und dessen Freund, der Hofkapellmeister Richard Wagner. Bakunin und Wagner flohen zunächst nach Chemnitz, wo Wagner bei seiner Schwester auf dem Gelände der Schönherrfabrik kurz Unterschlupf fand, Wagner entkam schließlich über Weimar, wo sein späterer Schwiegervater Franz Liszt lebte, in die Schweiz, Bakunin wurde in Chemnitz geschnappt und nach Russland ausgeliefert.
Ob Wagner deshalb aus eigenem Erleben so sehr darauf drängte, dass Liszt den zwei Jahre vorher in Graupa bei Pirna komponierten „Lohengrin“ unbedingt aufführen sollte (in Dresden war’s ja für den steckbrieflich gesuchten Wagner nicht möglich), wer weiß. Der Andorraner Rechi jedenfalls und sein Bühnenkonstrukteur Sebastian Ellrich und Kostümbildnerin Mercè Paloma haben die Entstehungsgeschichte verinnerlicht. Und alles ganz anders gemacht als Liszt, der die Oper 1850 in Weimar uraufführte – nach 46 (!) Proben und mit einem 38 (!)-Mann-Orchester.
Königsloser Zustand auch an der Schelde, alles geht in Brabant drunter und drüber. Ein Rummelplatz der Armseligkeit und Orientierungslosigkeit. Der große König von draußen, der für Einigkeit und Einheit sorgen sollte, kümmert sich mehr darum, dass seine Operettenuniform sitzt, dass er ordentlich rasiert ist, und dass seine Zigarre brennt. Wenn einer nicht pariert oder nicht mehr gebraucht wird wie der Heerrufer, rammt man ihm kurzerhand das Schwert in die Kehle. Die Rechtsprechung überlässt man dem lieben Gott, lässt sie aber auch anfechten durch die Altgermanengötter-Hexe Ortrud. Wenn sie einen im Zaubergriff hat, was hilft’s Dir da, absolutistischer Herrscher zu sein. Die Masse, angeblich Herr, knechtet sich, wenn sich’s lohnt, auf Befehl mit Liegestützen und bettelt um ein Stück Schokolade. Da muss ein Wunder geschehen, wenn sich was ändern soll. Und siehe da: Operngott Wagner bringt mit dem Schwan nicht Leda, sondern eine männliche Lichtgestalt. Die stürzt – ausgerechnet in der Hochzeitsnacht – mit sich selbst und seiner Elsa in eine Vertrauenskrise, weil im Bruch der Welt auch in der Liebe Chaos herrscht.
Steht alles, inklusive Tötung in Notwehr des machthungrigen Möchtegerns und Ortrud-Gatten Telramund, so bei Wagner. Dann aber greift Rechi nochmal ein: die böse Zauberin muss sich selbst die Adern aufschlitzen, die liebe Elsa in die Tiefe entschwinden. Denn Strafe muss sein: Rechi lässt sie ihren Bruder Gottfried nicht mehr sehen, schon gar nicht in dessen „Armen leblos zu Boden“ sinken, von dem Bruder singt Lohengrin nur und streichelt der geliebten Frau über den Bauch. Er selbst verschwindet zum himmlischen Gral. Das Heer gegen die bedrohlichen Ostler-Ungarn soll führen, wer will, vielleicht kann ja der kleine Gottfried dereinst die Einheit des Reiches und Sicherheit schaffen. „Nach Deutschland sollen noch in fernsten Tagen/des Ostens Horden siegreich nimmer ziehen“, weissagt er dem König. Mal sehen.
Rechi macht kein Philosophicum aus dem „Lohengrin“, erzählt die Geschichte der unmöglichen Liebe zwischen einem Überirdischen und einem Menschenkind in vielen Facetten. In manchen Bildern ist er übergenau (Ortrud lockert physiotherapeutisch die Muskeln ihres Telramunds vor dem Kampf), in anderen lässt er schöne Bilder vor Recht ergehen (Eva hört oben auf dem „Söller die demütig spielende, unten kauernde Ortrud genau, nicht aber, wenn sie fortissimo von Rache singt). Aber es sind faszinierende Bilderbögen, die er uns da auf der Drehbühne, die ihren Namen in dieser Inszenierung wahrlich verdient, auch optisch filmreif serviert. Und irgendwann fühlt sich der Zuschauer in dieser kaputten Eisenträger-Achterbahnwelt heimisch und friert mit der ärmellosen Brautkleid-Eva im Schneerieseln.
„Rheingold“ am 31. Januar fällt zwar aus (dafür gibt’s eine wahrscheinlich wieder ausverkaufte Vorstellung des Chemnitzer „Nussknacker “-Balletts), aber um Ostern und Christi Himmelfahrt ist noch zweimal der komplette „Ring“-Zyklus geplant. Jetzt also auch noch „Lohengrin“. Mit toller Besetzung. „Es läuft gut in Chemnitz“, kommentierte der ehemalige Generalintendant Rolf Stiska beim Rausgehen, der extra aus Berlin angereist war.
Rechi kommt aus dem kleinen Andorra auf der iberischen Halbinsel. Er hat zum ersten Mal Wagner inszeniert. Mit Begeisterung. García Calvo ist im großen spanischen Nachbarland daheim. Er hat schon oft Wagner dirigiert, ist richtiger Wagner-Fan. Und das war zu spüren. García Calvo verfügt über eine höchst wandelbare Gestaltungskraft – kann mit jeder Regie-Idee mitgehen, ohne das große musikalische Auge blind werden zu lassen. Die Vorspiele zum ersten und dritten Akt sind schon Offenbarungen. Das zum ersten nicht in der manchmal nur trüben Stimmung, sondern schon leicht eckig und blitzend wie die Bilderfarben, die von der Bühne kämen. Das zum dritten dann, purer Genuss, hinweisend auf das erschütternde Ende, dann aber – Vorwegnahme der Vertrauenskrise – zart-romantisch, wie es nicht besser geht. Die Robert-Schumann-Philharmonie, opulent besetzt, mit Bühnenmusik und Orgel (von wegen nur 38 Musiker), erweist sich wieder als wunderbares Wagner-Orchester, in allen Stimmgruppen. Es zelebriert das leiseste Pianissimo, malt mit den vielfach geteilten Geigen fast impressionistische Bilder und trägt die Sänger, die sich zu Recht für diese wundervolle Unterstützung bedankten. Wie bei den Sängerinnen und Sängern der perfekt einstudierten Chöre (Leiter: Stefan Bilz und Dovilė Šiupėnitė)
Unter den Sängern ragte Mirko Roschkowski als Lohengrin mit seiner modulationssreichen Stimme heraus, die Liebe genauso singen wie Enttäuschung und Schmerz mitfühlen kann. Zu früheren Zeiten hätte das Publikum bei der grandiosen Gralserzählung eine Wiederholung erklatscht. Widersacher Telramund (Martin Bárta) hat ein sehr kräftiges Organ, das er auch, manchmal etwas (zu) forciert, gern einsetzte. Bei den Partnerinnen das umgekehrte Bild: Elsa (Cornelia Ptassek) , die Leichtfüßig, schauspielerisch rührende Reine, mit einem hellen, manchmal sehr forsch und hart angesetzten Ton und – zu Beginn – ein paar Intonationswacklern. Wer will ihr das verdenken, bei den Kletterübungen auf wackeligen Sprossen, die der Regisseur von ihr verlangte. Stéphanie Müther mit lupenreiner Stimmführung war eine tolle, jederzeit beherrschte Böse voller Mutwillen, und im Duett mit Elsa die personifizierte böse Zauberin, an der Gutheit und Reine nicht kratzen können. Der von Rechi angelegte Wandel-König kommt Magnus Piontek höchst zupass. Ob weiser König, Spielball der Massenkräfte oder Umbringer – Piontek zeigte wieder mal, über welch wandlungsfähig fülliges Organ er verfügt. Solang er leben durfte, war der Heerrufer (Andreas Beinhauer) eine adäquate Vervollständigung der guten Sängerriege, die die Oper Chemnitz hier wieder – ihrem Ruf als nicht nur traditionelles, sondern auch herausragendes Wagner-Haus in Deutschland entsprechend – aufgeboten hat.
Ein ideenreicher, ungewöhnlicher „Lohengrin“, szenisch voller einbrennender Bilder, musikalisch höchst beachtenswert. Zurecht großer Beifall für Wagners „romantischste“ Oper. Unbedingt empfehlenswert.
Die nächsten Vorstellungen: 22.2., 15.3., 5.4., 10.5.