Ein grandioser Gast, Jee Hye Han als Turandot, eine ihr ebenbürtige Chemnitzer Liù, Maraike Schröter, Hinrich Horstkotte, ein Regisseur, der überall auf der Bühne genial die Finger im Spiel hat und mehr Musikalität im kleinen (Finger), als andere Regisseure in ihrem ganzen Leben auch nur ahnen, ein Chor, der nicht nur klasse sang, sondern auch bewegtes Bühnenbild par excellence abgab, eine Robert-Schumann-Philharmonie, die das Letzte aus sich rausholte und ein junger Mann, der zeigte, dass er auch mit Verismo-Ausläufern großartig umgehen kann: Felix Bender. Vor ein paar Tagen Schostakowitsch, jetzt Puccini. Sänger und Publikum lagen ihm zu Füßen.
Hundert pro: Bei dieser Aufführung hätte sich auch Richard Tauber gern feiern lassen. Der Sohn des damaligen Chemnitzer Intendanten, der mit Mozart seine Karriere auf der Chemnitzer Bühne begonnen hatte, sang den Calaf bei der ersten Aufführung in Dresden. Und zwar in der Fassung, die Chemnitz jetzt wählte – mit dem „langen“ Schluss, wie ihn Franco Alfano komponiert hat. Puccini war vor Vollendung an Kehlkopfkrebs gestorben. Toscanini, Dirigier-Papst seiner Zeit, hatte Alfano gezwungen, den Schluss von 377 auf 268 Takte zu kürzen. Diese Fassung wurde bald allüberall gespielt. Wenn Papst Toscanini was ex cathedra verkündete, war es Gesetz. Himmlisch teuflisch. Auch in Chemnitz, 2001, wurde dieser Schluss gewählt. Heinicke war Regisseur, Randall war damals schon dabei, seine Rolle (die des Kaisers Altoum) sang damals Jürgen Mutze…
Die Toscanini-Fassung stammt von 1926. Gedruckt wurde sie aber erst 1928. Als die Dresdner den „letzten“ Puccini ins Programm nahmen, hatten sie die neuen Noten noch nicht, und sie spielten den kompletten Alfano-Schluss. Ob Tauber da auch sterben musste, keine Ahnung. Horstkotte heute lässt alle auf dem Altar der Liebe sterben: Liù, Turandot, Calaf. Da liegen sie. Tot. Das Orchester braust noch einmal majestätisch auf – der Philippi-Sieg der Liebe. Wunderschön und glänzend und laut.
Das Schlussduett hat Puccini geplagt bis in seine letzte Minute. Durften die beiden sich kriegen – trotz all ihrer Versprechungen: Sie, Turandot, die nie einem Mann gehören wollte, weil eine Vorfahrin einmal von einem sexistischen Tataren vergewaltigt worden war, Calaf, der nur von einer liebenden Frau geliebt werden wollte, nicht nur von einer, die dem göttlichen Kaiservater gehorsam, vor dem Eid und nicht in Liebe niedersank?
Die Chemnitzer Lösung „Liebe siegt, alle tot“ hat viel für sich. Mit einem Happy-End wäre das Ganze zu einer Soap-Opera verkommen. Das hätte nie und nimmer zu dieser aufreizenden Puccini-Musik gepasst. Der Kampf zwischen Mann und Frau, der Liebe heißt, kann ein solches Ende nehmen – Träne im Knopfloch. Aber im Tod haben sich Hero und Leander, Romeo und Julia, und eben auch Calaf und Turandot. Schön. Und schön traurig.
Hinrich Horstkotte (in Chemnitz kein Unbekannter: Bühnenbilder für Maskenball und Idomeneo) hat eine großartige Gesamtkomposition verwirklicht. Sein Bühnenbild – von dem Columbarium am Anfang über die Monsterküche im Keller bis zur fastgöttlichen Heimat der Silbertochter des Goldgottkaisers hoch droben schuf die Atmosphäre für dieses Märchen aus der 1001. Nacht auch des 21. Jahrhunderts. Nicht nur, dass die hohen „Mauern“ klanglich eine wundervolle Fülle zauberten, die äußere Gefangenheit des Inneren der Handelnden spiegelt sich tausendfach.
Kein Problem, dass China, Japan, Korea und was sonst noch Fernöstliches von gestern, vorgestern und heute sich da ein munteres Stelldichein gaben, dass die Statisten mit Bodybuildhenkerkörper und Barbusen Verismolebenswahrheiten verkörperten (im wahren Wortsinn) – da werden plötzlich Winkelemente (weiß, nicht rot) chinesische Volkswintermärchen, da zuckeln Ärme wie die Flügel im Storchenvideo, da trippeln Füße volksnah erdgebunden gegen Plateausohlen der Machtschützer. Ständig was los, nie Ruhe, jede musikalische Kleinheit in Gestik übersetzt – eine solche Einheit zwischen Bühnenbild, Kostümen, Regie – das gibt’s ganz selten. Vor allem, wenn das alles noch zur Musik passt wie die Faust aufs Auge. Großartig.
Herausstechend die Koreanerin Jee Hye Han als Turandot. Eine Stimme zum Niederknien. Im Fortissimo und im hauchzarten Pianissimo. Eine Silbergöttin vom Kopf bis zu den Fußsohlen (nö, stimmt nicht: die allein waren schwarz). Maraike Schröter, die sympathische echt Liebende, stand ihr in nichts nach – was sind wir froh, dass die Sopranistin zum Ensemble in Chemnitz zählt. A propos: die neuen Chemnitzer, seit dieser Spielzeit im Ensemble, lieferten durchweg Superpartien ab: Magnus Piontek (Timur), Hubert Walawski (Pang), Katharina Poschmann (Dienerin). Die „alten“ Chemnitzer nicht zu vergessen: Edward Randall als Kaiser first: Niemand darf ihn sehen, den gottähnlichen Kaiser, in Gold in der Höhe schwebend, nach hinten singend, und doch jeder Ton und jede Silbe verständlich. Kindschuh, Riemer, Winter – wir lieben sie. Sie machen das toll. Was haben wir in Chemnitz für ein gutes Ensemble! Den Calaf singt Jeffrey Hartman, ein (sehr) reifer „Jüngling“. Schöner Tenor, präsent jederzeit, schöne Höhen, Fülle. Aber mehr Tatar als Prinz. Solodownikow von 2001 ist uns noch im Gedächtnis.
Glänzend der Chor – groß, mächtig, voller Spielfreude. Toll einstudiert von Stefan Bild und Pietro Numico. Und wieder die Robert-Schumann-Philharmonie. Die scheint einen Narren an Felix Bender gefressen zu haben. Sie spielten (samt Schlagwerk im Graben und hinter der Bühne) wie die jungen Götter. Bender und Horstkotte – das ist keine einfache Zusammenarbeit. Horstkotte lässt die Pingpangpong in ihrer makabren Verführerküche agieren, dass da schon mal nicht nur die Paprika und die Zwiebeln anbrennen. Aber bei so viel Spielfreude ist auch mal ein Wackler drin… Macht nichts. Wenn Musik und Bühnengeschehen so aufeinander abgestimmt sind, lebt das Ganze. Dabei versucht Bender nie, die Musik dominieren zu lassen, obwohl sie das natürlich tut. Er gibt auch „Nessun dorma“ ganz unsentimental – weigert sich vor jeder Kitschglitschseife. Holt die geklauten Puccini-Klänge der 1920er Weltmusikgrößen (von Strawinsky bis Strauss) genauso raus wie diese wunderbaren Puccini-Eigenheiten, die so allein stehen in einer Zeit, da Belcanto noch nicht vorbei und die wirklich moderne Musik noch nicht so recht da ist.
Die Chemnitzer Oper hat mit „Manon Lescaut“ schon mal einen Welterfolg (ja, das ist nicht übertrieben, die DVD wird weltweit geschätzt) erzielt. Diese „Turandot“ hat auch das Zeug dazu. Ehrlich: sie war konsequenter, logischer, hat mir besser gefallen als die sündteure Bregenzer See-Aufführung, die vor wenigen Tagen wieder im Fernsehen übertragen wurde. Gestern bei der Premiere hat einfach (fast) alles gestimmt. Viele Autos mit fremden Kennzeichen in der Tiefgarage. Und die Ur-Berliner Tante einer Chemnitzer Familie, Opernliebhaberin seit Jahrzehnten, gestand hauptstadtschnoddrig beim Rausgehen: „Kein Vertun. Klarer Sieg der Provinz“. Gott, wie gut, dass wir die Provinz sind
(bearb. 30.11.)