Lass‘ mich in Ruhe! Oder: Die Uhr ohne Zeiger

Es sind vor all die Bilder, die diese Inszenierung des mehr als 100 Jahre alten Stücks so stark machen. Am Schluss hängt eine Uhr an der Wand. Sie hat keine Zeiger. Sie tickt nicht. Es gibt keine Zeit mehr. Keinen Sinn. Hier. Auf dem unterganggeweihten russischen Landgut, auf der Erde, die nurmehr ein Landkartenabklatsch der Wirklichkeit ist. Alles bleibt, wie es ist oder scheint. Zu Veränderung und Neuanfang fehlen Wille und Kraft. Für alle Zeit und Ewigkeit. Aus dem Stress der Langeweile, aus dem Hamsterrad des sinnfreien Funktionierens, aus der Beziehungsunfähigkeit züngelt die Hoffnung nach –  Ruhe. Die brennende „Ruhe“ des Schlussbildes lässt alle Sehnsüchte nach einem Neuanfang zu Asche werden, noch ehe die erste Sekunde getickt hat.

Schier endlos zerrt Knödler zu Beginn an den Nerven des Publikums. Das stand eben noch draußen und hat beim Sekt gequatscht und gelacht. Kommuniziert. Und jetzt sitzt da sprachlos die alte Maria auf der Bühne und Astrow, der Arzt, läuft wie ein Hirni sinnfrei durch die karge Bühnenlandschaft – das wirkt wie ein Sog auf die Leute im Parkett. Sie werden ruhig, mehrfach, obwohl noch kein Saallicht ausgeht. Werden Teil dieses sprachlosen Geschehens auf der Bühne. Herausgeholt aus der Hektik der Ungewissheit des 21. Jahrhunderts mit Flüchtlingen und Klimawandel in die Gewissheit des Fin de siècle des 19. Jahrhunderts, als – nicht nur in Russland – alle Welt sich gewiss war, dass es so nicht weitergehen würde, aber keiner wusste, ob und was das Neue wäre, das da kommen musste. Noch knallt keine Revolution, so wie die Schüsse Wanjas an Alexander vorbeigehen.  

„Ruhe“ – das ist, was am Ende als Fanal übrigbleibt. Was den Stress der Beziehungsunfähigkeit heilen soll. Tschechows Figuren haben jede Beziehung zu sich selbst verloren. Sie wissen nicht, was sie wollen. Sie haben die Beziehung zu den anderen Menschen verloren oder nie gehabt. Was sie wollen, wenn sie’s denn wissen, kriegen sie nicht. Und damit werden sie nicht fertig. Sie haben die Beziehung zur Umwelt verloren. Sie erleben die Welt nicht mehr in Bäumen, sondern nur noch auf einer Landkarte. Die Vorstellung von Hitze in Afrika wird wichtiger als Regen und Sonnenschein auf dem weiten russischen Land.

Und so fliehen sie in ihre „Ruhe“: der Arzt in den Wodka, Sonja in die Hoffnung auf die Ruhe drüben, Alexander und Lena in den Lärm der Stadt, der sie nicht zu sich selbst quälerisch kommen lässt. Wanja wird wieder Tag für Tag malochen, obwohl er hätte Schopenhauer werden können. Maria lebt vom (falschen) Ruhm des Schwiegersohn-Professors. Nur Telegin (wunderbar Philipp von Schön-Angerer), der eh mit allem abgeschlossen hat, summt und zupft weiter melancholisch vor sich hin. Er hat seine Ruhe gefunden. Er braucht niemanden mehr. Er zieht die Mütze auf – ist sich selbst genug. Wird ein Narr. Besser: Ist ein Narr geworden.

Geschickt hat Knödler diese Tragikomödie von Ballast befreit, eine Figur weggelassen (die Amme, die er, weil gestrig, mit der Mutter vereint, die nur noch Schatten von gestern ist). Er hat die komplizierten russischen Figuren-Namen leicht sprechbar gemacht. Er lässt Astrows Philippika gegen die Umweltzerstörung bis zum Drei-Liter-(Verbrauchs-)Auto alltagstauglich werden und die Erklärung der abgeholzten Welt daherkommen wie Wetterprognose in ARD und ZDF.

Es bleibt trotzdem eigenartig, warum er ausgerechnet dieses Stück ausgesucht hat. Auch Friederike Spindler, die Dramaturgin, mag Zweifel gespürt haben, wenn sie im Programmheft schreibt: „Wir sind möglicherweise freier und selbstbestimmter in unseren Handlungsspielräumen als Tschechow und die Figuren seiner Zeit. Einfacher ist es trotzdem nicht…“ Ja, aber zum Teufel, wir hauen auch mal mit der Faust auf den Tisch, geben dem Chef Kontra, tun, was wir wollen.

Warum dann aber trotzdem „Onkel Wanja“? Da müssen die Schauspieler ein Wort mitgesprochen haben. Weil sie diese Rollen wollten. Weil sie diese zweifelnd verzweifelten Typen, immer auf der Kante, spielen wollten, weil sie da alle möglicherweise vorhandenen Selbstzweifel hinausbrüllen konnten, weil sie zeigen wollten, was in jedem von uns steckt, ohne dass wir uns es zugestünden.

Und so haben sie denn auch gespielt – mit ungeheurer Intensität. Dirk Glodde, der Gast, als Wanja – ob er erstmal sich selbst suchte bis hin zum schießenden Schlussmacher, wenn denn schon nichts übrig bleibt von 25 Jahren Maloche, die nichts wert sein sollen, und 13 Jahren weiteren möglichen sinnlosen Lebensjahren. Die von allen ob ihrer Schönheit wie ein unerreichbares Wesen von einem anderen Stern begehrte Lena spielte Pia-Micaela Barucki, unfähig zur Liebe, noch nicht mal zur ehrlicher Freundschaft mit Sonja, göttlichgähnende Langeweile als Person. Jeder nahm ihr ab, dass ein Kampf gegen die Krankheit Langeweile, jede Arbeit, gar der Unterricht für dumme Bauernkinder, Todesstrafe wäre. Wolfgang Adam als ausgedienter Professor zerfloss vor gichtigem Selbstmitleid – und ließ sich als undankbaren Idioten vorführen, als er einmal das Herz in die Hand nahm (und das Mikrofon: das war auch so eine kleine Knödler-Raffinesse. Wie kann ich besser zeigen als mit einer einstudierten Mikrofon-Rede vor der eigenen Familie, wie unfähig dieser Mann zu einer echten Beziehung ist).

Christine Gabsch war die Alte jenseits von Gut und Böse, die mit allem abgeschlossen hat, Andreas Manz-Kozár überzeugte als die wirklich tragische Figur des Stücks. Der Arzt Astrow ist der erste Umweltrepräsentant der dramatischen Literatur. Astrow leidet wie ein Hund, wenn ein Patient unter seinen Händen stirbt. Er hat alle Anlagen, ein Großer zu werden, und wird zum Säufer, weil er nicht wirklich tut, was er gern täte. Großartig! Zart, unglücklich verliebt, verwuschelt gab die schöne Maria Schubert die unschöne Sonja, das ewige Aschenputtel, das in ihren Gummistiefeln nie Prinzessin werden wird. Und Philipp von Schön-Angerer (als verarmter Gutsbesitzer Telegin) schuf mit seiner Gitarre mehr russischweite Einsamkeitsatmosphäre als noch so viele Birkenwälder, wie wir sie sonst bei Tschechow-Aufführungen so oft gesehen haben.

Die brauchte übrigens Frank Hänig nicht. Diese festen Wände, die Spiegeldecke – da gibt es kein Entkommen aus der selbstgewählten Begrenzung. Wer in die Zukunft schauen will, sieht nur sich selbst. Die passenden Ton-in-Ton- Kostüme dieser beziehungsunfähigen Gemeinschaft schufen Ricarda Knödler (gute Besserung!) und Frank Heublein. Blutrot schließlich das Opferkleidchen für Sonja: die Erlösung wird es erst im Jenseits geben. Dereinst in einem neuen Leben.

Ein anderes Leben in flammender Ruhe. Starkes Schlussbild. Großer Beifall.