Bruckner1Part.4.Satz

Kantersieg: Beermanns vollendeter Bruckner

Das hat Opfer gekostet. Beermann, bekennender und großer Fußball-Fan, hat dafür sich und seine 90 Mitstreiter im Orchester vom deutschen WM-Triumph gegen Portugal ausgeschlossen: Statt vier Tore zu sehen, wurde der 4. Satz geprobt. Den in Chemnitz vorher noch niemand live gehört hat. Weil vorher die neunte Bruckner-Sinfonie meist mit dem dritten Satz zu Ende ging. Die handschriftlichen Noten Bruckners zum Schlusssatz waren zum großen Teil aus Bruckners Sterbewohnung geklaut und als Souvenirs in die ganze Welt verstreut worden. Mehr als 20 Jahre haben vier Forscher gesucht, gebastelt und gepuzzelt und am Schluss eine aufführbare Form für den Satz erarbeitet. Wahrscheinlich ist da mehr Bruckner drin, als Mozart im Mozart-Requiem, dessen größere Teile der Schüler Süßmayr vollendet hat, weil die trauernde Witwe Constanze noch einen Schnitt machen wollte…

Die beiden Pausen zwischen den ersten drei Sätzen der Bruckner-Sinfonie stand Beermann gelassen locker, die letzten Huster abwartend, vor dem Orchester, ehe er wieder den Taktstock hob. Ganz anders vor diesem neuen Schatz, dem vierten Satz. Pause kürzer, fiebrige Gespanntheit. Ein bis in die Fingerspitzen konzentrierter Dirigent, der jede Note vorwegnahm, jeden Einsatz steuerte: das war sein Ding. Beermann wollte zeigen, dass die Notenpfuscher (wie der erste Herausgeber), die Ersatzvornehmer (manche Dirigenten spielten an Stelle des vierten Satzes Bruckners „Te Deum“), die Verzichter (der dritte Satz ist so gut, es braucht keinen vierten) unrecht haben. Verlierer sind. Die Sinfonie ohne vierten Satz: der entscheidende Ballverlust, so kann das Spiel nicht gewonnen werden.

Wirklich? Muss der vierte Satz sein? Ist er gar die Krönung der Sinfonie, möglicherweise des Brucknerschen Schaffens? Ist in den Sätzen vorher nicht schon alles gesagt?

Beermann, nach einer kräftezehrenden Saison und einem auch physisch anstrengenden Bruckner, locker in Jeans mit seinen Musikern beim Saison-Abschlussbier in der Stadthallen-Lobby, lässt keinen Zweifel aufkommen und redet sich sofort wieder in Begeisterung. „Ja, in diesem Satz ist alles drin. Da zitiert Bruckner sich selbst aus der Sinfonie, aus dem Te Deum, zitiert auch Wagner. Geht musikalisch so weit, wie er noch nie gegangen ist. Haben Sie die Nonen in den Trompeten gehört? Die Dissonanzen? Und die Bewegung in jedem Motiv wahrgenommen, die immer nach oben geht?“

Bruckner war ein tiefgläubiger Katholik. Als er die Sinfonie schrieb, war er sterbenskrank. Hochgradig Zucker. Und das Herz machte nicht mehr richtig mit. Er widmet die Sinfonie nicht irgendeinem irdischen Gönner, sondern „dem lieben Gott“, der ihn, das hoffte er, bald aufnehmen würde in sein Reich. Die Sinfonie wird Demut (des irdischen Geschöpfs) vor der Größe Gottes (für Bruckner ist Gott immer ganz groß: musikalisch heißt das volles Blech, vier Trompeten, vier Posaunen, Basstuba, acht Hörner – oder vier und vier Wagner-Tuben: Musikalische Kathedrale, wie sie die Menschen, die im Mittelalter in Hütten gewohnt haben, in Stein für ihren Gott errichteten) , sie spielt mit einer Volksliedmelodie auf die Schönheit der Erde an. Mit einem wilden Fegefeuer-Abstrich-Furioso im zweiten Satz auf die Sündhaftigkeit der Geschöpfe, betet um Erbarmen („Miserere“, „Erbarm dich“, – wie es im Adagio aus d-Moll-Messe zitiert wird). Die aufsteigenden Melodien des vierten Satzes weisen für den frommen Bruckner himmelwärts, ebnen der unsterblichen Seele den Weg in den Himmel.

Musikalisch mag sich beim ersten Hören die Notwendigkeit des vierten Satzes nicht sofort erschließen. Da haben Beermann und seine Musiker dem Publikum einiges voraus. Wer aber einmal Bruckners Motette „Locus iste“ Gänsehaut erzeugend in einer hallenden Kathedrale gehört hat, der versteht, dass Bruckners letztes Erdenwerk ohne die Erlösungshoffnung des vierten Satzes nicht zu Ende ist. Aber wir sind nicht Musiktheologen. Wenn einer wie Bruckner monatelang Bogen für Bogen mit Noten vollschreibt, und seien sie noch so unvollendet, dann hat er das nicht „ad libitum“ gemacht und nicht aus Daffke.

Beermann hat gezeigt, dass der vierte Satz tatsächlich die Krönung der Sinfonie, vielleicht sogar von Bruckners Schaffen ist. Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie haben gegen Ende einer langen, zehrenden Konzertsaison (noch kommt ja der Schubert-Marathon!) noch einmal alle Kräfte mobilisiert und ihr ganzes Können. Diese Sinfonie ist neben allem anderen physisch schwer und technisch schwierig. Diese ständigen schnellen Tremoli in den Streichern, die unter den Bläsern kaum einer hört, diese extremen Höhen in Hörnern und Trompeten, die Pizzikatipassagen (wo alle dasselbe nicht nur meinen, sondern auch spielen müssen, punktgenau), die markanten Einwürfe der Holzbläser, die dunkle Erden- und jubelnde Himmelsatmosphäre schaffenden Pauken – das war eine großartige Leistung. Berührend, erschreckend, versöhnend – ein großer Abend von einem großen Orchester. Das wir auch in Zukunft so groß und gut haben möchten.

Beermann hat wieder mal einen Schatz gehoben. Gut, dass er sich nicht bremsen ließ. Noch nicht mal von der WM. Die nächsten Spiele der Deutschen kann er sich in Ruhe anschauen… Es sei denn, er hat schon wieder was in petto. Wenn, dann erzählt er es vielleicht am Sonntag beim Konzertfrühstück (10.30 Uhr, Opernhaus, Rangfoyer)…