Iris ter Schiphorst: Audio, ergo sum

Überall sind Töne. Iris ter Schiphorst hört hin. Was sie hört, verwandelt sich für in Musik. Frösche im Sumpf („ergo sum-pf-Maschinerie“) oder lärmende Bulldozer im sonst idyllisch leisen Schweizer Bergtal („Ballade für einen Bulldozer“). Sie nimmt auf. Die Geräusche. Die Atmosphäre? Digital schon. Aber nur 2 MB Kapazität, damals. Jedes Handy-Foto beansprucht heute mehr. Sie gestaltet. Sie macht was draus. Vom Sampler her reißen Bässe, näseln Stürme, fiepsen Vögel. Christoph Grund an Klavier und Sampler in den beiden Stücken mit dem scheinbar mühelos Kletter- und Gleit-Passagen bewältigenden Saiten-Artisten Andreas Winkler und (gerade) dem Solo „Eden cinema“ – sensationell.

„Ergo sum“ – das erinnert (gewollt natürlich – nichts scheint’s bei ter Schiphorst ungeplant zu geben) an des Philosophen Descartes: cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich). Sie denkt nicht. Philosophiert nicht. Sie hört (audio, ergo sum), sie empfindet (sentio, ergo sum), sie schreibt’s auf in Noten (noto, ergo sum). Sie spielt mit den Wörtern, dem lateinischen sum (ich bin) hängt sie das pf an, macht es deutsch: „Sumpf“, dort wo die Frösche sind. Wo das Moor brabbelt und den übermütigen Geigermenschen runter zieht, wenn er nicht ruhiger wird.

Nicht ohne Grausamkeit, die Expressionen, die ter Schiphorst aus ihren Kompositionen hinausschreien lässt. Der Bulldozer, der die Idylle zerstört. Eden, der gar nicht so schöne Paradiesgarten mit den fremdfranzösischen Stimmschnipseln von Marguerite Duras. Und dann die schreckliche Ballade von „Der Wirtin Töchterlein“. Als Kind habe sie immer Balladen gehört, von der Oma, wie die Komponistin ihrem Interpreteninterviewer Andreas Winkler in den zwischengeschalteten kurzen Gesprächen bekennt. Grausam seien die Balladen, wie die von „der Wirtin Töchterlein“, die von drei Rittersleuten so begehrt wird, dass jeder ein Stück von ihm haben will. „Sie legten es auf den viereckigen Tisch/Und teilten es wie einen Wasserfisch“.

Zu der Ballade „Wie einen Wasserfisch“ von 2003 (so auch der Titel des ganzen Abends) nimmt ter Schiphorst nicht den Sampler. Sie holt fauchende Bassflöte (Sabine Bruder)  und drohende Bassklarinette (Albrecht Scharnweber) zu den irrlichternden Streichern, lässt drei Schlagzeuger (Jens Gagelmann, André Schieferdecker, Carsten Neppl)  ihre Instrumente atmosphärisch quälen: die große Trommel darf nicht wummen, sie wird wie mit dem Jazzbesen gestreichelt, Metallblätter werden mit dem Schlegelende entglockenklarisiert, das Waschbrett wird triolisiert. Aber vor allem: die Sängerin singt den Text rückwärts – was gibt es Verquerteres auf der Welt, heißt das, als diese schreckliche Ballade?

Die Sängerin war Nancy Gibson. Die Direktorin der Musikschule, die sich mehr mit Stadträten rumärgern muss als mit den mehr als 2.000 Schülern plagen darf. Die Kanadierin, die jetzt deutsch rückwärts artikulieren muss. Aber immer noch wie ein Leben lang, Sängerin. Gott, wie muss man diese Sprache üben, die für den Menschen wie eine (unmenschliche) „Fremdsprache“ klingt (ter Schiphorst), diese Einsätze, deren Ton keiner angegeben hat, diese Brüche im Fluss und diese rezitativischen Fließstrecken. Und alles nebenbei. Bewundernswert. Einfach bewundernswert.

Nun könnte man meinen, ter Schiphorst sei ganz nah dran an Cage und Konsorten wie László Moholy-Nagy. Fremd sind die Tonalfeinde ihr nicht. Aber sie verfällt ihnen nicht. Dazu hat sie viel zu lange selbst Musik gemacht, auch Pop. Ein herrliches Beispiel für „schöne“ Musik sind die Miniaturen für Klarinette und Streichquartett von 2010, die den Anfang des Abends machten. Bei „schön“ nicht gleich Mozart oder Weber hören! Bei ter Schiphorst ist schön auch, wenn die Klarinette haucht, überbläst und Doppeltöne von sich gibt, wenn die erste Geige glissiert und jault und das Cello Pizzikati knallt, dass man meint, es bricht auseinander, wenn zweite Geige und Bratsche nach oben und unten schielen, um jedes noch so verquere Sforzato an der richtigen Taktstelle reinzuknallen. So was kann wohl kein Mensch zählen, das muss man aus der Partitur spielen. Die sieht aus als wäre sie die normalste der Welt. Und ist gespickt mit Igeln.

Das ensemble01 ist klasse, das wissen wir (Andreas Winkler, Ruth Petrovitsch, Ulla Walenta, Thomas Bruder). Jetzt kam Regine Müller dazu, mit ihrer Klarinette, tief, hoch, brüllend, säuselnd, schnellll und laaang – war das gut! Iris ter Schiphorst war gleich im ersten Interview hin und weg über die Freude, die die Fünf ihr gemacht haben (wie übrigens schon bei der Aufführung 2012, die vom Deutschlandfunk übertragen wurde). Und dem Publikum.

Unter demselben viele Kollegen und Theaterleute. Sie spürten in jeder Nervenzelle, was da Tolles und toll Schweres geboten wurde von den Kollegen. Und die sonst so gelassenen Profis klatschten von Herzen.

Es war ja auch ein großer Abend. Ein ganz großer. Nur: Warum zum Teufel, fragt sich der geneigte Betrachter, kommen so wenig Bürger der Stadt der Moderne, wenn es für sie Musik der Moderne gibt?

Eine kam gern nach Chemnitz und ging glücklich nach Berlin zurück: Iris ter Schiphorst. Hoffentlich kommt sie noch oft. Wenigstens in ihren Klängen. Ensemble01 und die Philharmoniker werden es schon richten. Keine Bange.

Zum Nachlesen: Werke von Iris ter Schiphorst in Chemnitzer Sinfonierkonzerten im Januar und im März 2014