Interpreten sind (keine) Sklaven. Oder: Das Leben ist (nicht) schrecklich

Als ob der Zufall die Dramaturgie für das Programm dieses März-Sinfoniekonzertes (mit-)geschrieben hätte! Es passte wie die Faust aufs Auge zu den Umständen…

Dunkel ging‘s schon los: Iris ter Schiphorst, deren tolles Stück „Broken, oder ‚Why don’t you say a word…‘“ wir im Februar erleben durften, schrieb unter den Titel „HUNDERT KOMMA NULL“ „nach einem Anagramm von Unica Zürn“ und erläutert: „Das im Untertitel erwähnte Anagramm trägt die Ausgangszeile: „Das Leben ist schrecklich“.

Traurig das Schicksal von Viktor Ullmann. Dessen Klavierkonzert wurde 1939 komponiert. Der Komponist hat es nie gehört. Die Nazis brachten ihn 1944 in Auschwitz um.

Ärger über Ärger. Paul Wittgenstein, der Philosophenbruder, verlor im 1. Weltkrieg den rechten Arm. Der Pianist gab Maurice Ravel den Auftrag, ein Konzert für „die linke Hand“ zu schreiben. Tat der. Und war schon vor der Uraufführung entsetzt, wie frei der Pianist mit seinen Noten umging. Interpreten seien doch keine Sklaven der Komponisten, gab Wittgenstein zurück. Daraufhin Ravel: „Interpreten sind Sklaven“. Die beiden haben nie mehr ein Wort miteinander geredet.

Sprachlosigkeit auch in Chemnitz. „Auf Grund unterschiedlicher künstlerischer Intentionen [lat. intendere = sein Streben auf etwas richten. – eingefügt] hat sich Dietrich Henschel [wir erinnern uns voll Freude an seine Wolf-Lieder und den Film – eingefügt] dazu entschlossen, die Leitung des 7. Sinfoniekonzertes abzugeben“, meldete offiziell die Theater-Webseite. Und: „Dietrich Henschel dankt GMD Frank Beermann ausdrücklich für die kurzfristige Übernahme des Konzertes.“ Beermann schlug sich ein paar Nachtstunden mit den Partituren um die Ohren.

Und siehe da, alles wurde gut. Und harmonisch. Und beschwingt. Wie die 4., die italienische Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy, die der Zufall schon vorher versöhnlich an den Schluss des Programms gesetzt hatte. Durch die Nacht zum Licht…

Und das Leben war gar nicht mehr schrecklich bei Iris ter Schiphorst, und Viktor Ullmann hat im Himmel seine große Freude daran gehabt, wie Herbert Schuch ihm spät verdiente Ehre zuteilwerden ließ für ein großartiges Konzert (das erst 1992 uraufgeführt worden war), und Ravel – ebenfalls dort oben – hat seine (Fehl-)Einschätzung korrigiert: Interpreten sind keine Sklaven, wenn sie so gut spielen – nein, das Leben kann so harmonisch sein, unter der italienischen Sonne Mendelssohns und Goethes („Italienische Reise“) oder unter unserem wolkenlosen Chemnitzer Frühlingshimmel.

Iris ter Schiphorst, die Porträtkünstlerin dieser Saison, ist in unseren Gehörgängen schon daheim. Ihre unnachahmliche Mischung von Unpassendem klingt sofort nach ihr. Sie lässt sich nicht von den Ex-Modernisten vereinnahmen, für die Musik nicht ist, wenn Töne gehört werden – aber sie gehört auch nicht zu den Tonalmodernisierern, die heute gern für Filmmusik engagiert werden. Man würde so gern die Augen zumachen, um zu erleben, wie da was rauscht, dort was klingt, dazwischen was rumst. Schafft keiner. Schiphorst kann man nicht nur hören (schon gar nicht von der CD). Das will man sehen – wie Tom Bitterlich in den präparierten Flügel kriecht und die Saiten traktiert, wie Vibraphone und Becken gestrichen statt geschlagen werden, wie die (vorgeschriebenen) zehn Geigen sich der Übermacht von (Grippe?) sieben (statt acht) Celli und sechs Kontrabässen stellen (Bratschen gibt’s gleich gar nicht), wobei – ziemlich unfair – Thomas Bruder fast oben am Steg seines Solo-Cellos in Geigen-Regionen wildern muss, damit es hoch, aber voller klingt als ein dünnes Geigchen… Schiphorst ist raffiniert und überraschend bis zum Exzess. Auch rhythmisch. Beermanns nächtliches Studium der Partitur wurde wahrscheinlich nur durch die geraden Takte der krummen Ragtime- und New-Orleans-Anklänge etwas erträglicher. Aber auch die krummen Takte funktionierten. Respekt!

Eigentlich sollte man Ullmanns Schicksal nicht kennen, weil keiner davor gefeit ist, in dieser erschütternden Musik nicht auch Todesahnung (Anfang), SS-Gewalt (Schlagzeug) und Hoffnung auf Freiheit von Unterdrückung (Banjo, Ragtime, Walzer) zu hören. Der Gequälte, sich Leben Erkämpfende, ja, auch Betende – ist der Pianist. Der junge Herbert Schuch hat für seine so uneitle wie eindringliche Einspielung des Ullmann-Konzertes zu Recht einen Echo-Klassik bekommen. Er war überragend in seiner Bescheidenheit bei der fantastischen Umsetzung eines dienenden (auch dem Orchester) Parts, der brillant schwierig ist, aber nicht brilliert werden draf.

Den Ravel spielte Schuch gar (nach dem Ullmann!) auswendig. Den kommenden Jubel bereitete er natürlich in den „gängigen“ Teilen vor (Jazz-Anklänge, Bolero-Verwandtschaft). Aber diese wahnwitzigen Kadenzen mit ihrer ebenso ruhig sentimentalen wie strahlend jubelnden Empathie zeigten nicht nur, dass Ravel die Illusion der zwei Hände perfekt schaffte, sondern auch, das Herbert Schuch nicht nur ein großer Pianist, sondern auch ein großer Musiker ist. Die Bachbearbeitung als Zugabe krönte.

Und wies auf Mendelssohn, der einstmals Bach ja wieder aus der Versenkung geholt hatte. Dieser fröhliche Mendelssohn, diese Lasst-doch-allen-Ärger-hinter-Euch-Musik, in jedem Klassik-Schnulli-Chill-Programm rauf- und runtergenudelt, wurde zum glücklich schönen Abschluss eines denkwürdigen Abends. Die Robert-Schumann-Philharmonie gespannt bis in die Finger- und Fußspitzen und trotzdem irgendwie befreit folgte jedem Beermann-Wink und wollte, schien es, nicht die geringste Note den schnellen Beermann-Tempi opfern. Die “Italienische” – tausendmal gehört – selten so aufs Neue erregend erlebt.

„Es gibt immer wieder seltsame Ereignisse“, hat Iris ter Schiphorst zu ihrem Werk HUNDERT KOMMA NULL geschrieben. „Schnittpunkte, an denen verschiedene Leben … plötzlich aufeinander stoßen. Eine solche Koinzidenz von Raum und Zeit kann manchmal für alle Beteiligten unwiderrufliche und dramatische Konsequenzen haben.“

Am Montag probten die Philharmoniker noch mit einem anderen Dirigenten. Dramatische Konsequenzen… Am Donnerstag brachte Orchestervorstand Friedemann Sammler im Namen seiner Kollegen dem „Einspringer“ am Pult zum Konzertende einen besonders schönen Blumenstrauß. Danke, hieß das.

Und Gratulation. Weil der Chef an diesem Tag auch noch Geburtstag hatte, wie Konzertmeisterin Heidrun Sandmann verriet. Es hätte nicht besser kommen können. Glückwunsch. Dem GMD zum Geburtstag, und ihm und der Philharmonie für diesen Abend. Sie haben gezeigt, was und wie außerordentlich sie sein können. A-Orchester. Das Publikum hat es gespürt. Riesenbeifall.