Huch, was sind wir tolerant!

Haben wir (fast) alle erlebt. Das macht die Co-Produktion zwischen dem Jungen Staatstheater Berlin „Parkaue“ und dem Chemnitzer Schauspiel so kribbelnd – wir spüren noch, wie wir rote Ohren kriegten, als wir erstmals vor den möglicherweise nach Kohl riechenden Heiligen Hallen der künftigen vielleichtigen Mamas und Papas standen. Und schmunzeln innerlich beim Erinnern an das verdächtig schüchterne „äähm…ich muss… äähm“ von Sohn oder Tochter, wenn er/sie den augenblicklichen (noch) für alle Ewigkeiten glänzenden Goldschatz in die Truhe bürgerlicher Familien-Idylle packen wollte(n). Und sie damit fast sprengten.

Und all die Verrenkungen auf beiden Seiten – Kopfstände bei Jung und Alt, um tolerant zu scheinen, und auf Teufel komm raus scheinbar hinzunehmen (das Kind soll doch glücklich werden…), was – Himmel, das darf doch nicht wahr sein – da ins Haus schneien sollte. Scheinheilige Sprüche. Verlogene Blumen-Gesten. Tee aus Omas Porzellan und trockener Marmorkuchen. Heiliger Friede, Freude, Eierkuchen. Das muss schief gehen. Geht es auch.

Toleranz kann ganz schön ranzig sein. Kein Gramm Empathie drin, erst recht kein bisschen Sympathie. Gott was sind wir toll! Wir lieben die bunte Gender-Welt in Regenbogenfarben und kümmern uns lauthals um Asylbewerber. Alles in Butter. Auf’s eigene Brot schmieren, lassen wir sie nicht. Sieht aus wie Butter, schmeckt ranzig.

„Toleranzig“ heißt denn auch das Stück von Bonn Park, mit dem der Abend im Freien vor dem Ostflügel eröffnet wurde. (Es war schon immer so, auch unter Allonge-Perücken. [Herrliche Kostüme von Vanessa Maria Sgara, Anna-Maria Dworaczyk]. Auch zu Tschechows Zeiten. Oder später im Leoparden-Mini). „Toleranzig“ sind auch die gespielten Zwischentexte übertitelt. Bissen Brot bei der Weinprobe zwischen den einzelnen Sorten, die die Geschmacksnerven für das eigentliche Thema wieder in Fahrt bringen. Gelungene Pausenfüller. Auch Parteifreunde können wie beschissene Schwiegerväter oder Von-nichts-ne-Ahnung-Schwiegertöchter sein. Dramaturgisch ist der Abend mit den sechs Stücken gut durchgeplant.

Und das ausgewogen zwischen Berlin und Chemnitz. Mit „Toleranzig- Es geht los“ startete Berlin. Mit „Vom Ende einer Kindheit“ setzten die Berliner den furiosen Schlusspunkt. Dafür brachten die Chemnitzer mit dem Puppenspektakel „Die letzte Videothek“ und „Taliban“ zwei nicht nur optisch heiße Nummern.

Die Autoren nähern sich dem Thema auf unterschiedliche Weise. Da steckt hie ein Stück „Monsieur Claude und seine Töchter“ drin, dort ein Stück Yasmina Reza „Gott des Gemetzels“. Aber überall gibt es ein mehr oder minder fatales Ende, selbst wenn in Thilo Refferts „Die letzte Videothek“ Martin Valdeig am Schluss betont: „Das ist ein Happy End“. Von wegen. Am treffendsten nennt den Grund Oliver Bukowski in „Taliban“: „Liebe ist die neue beschissene Art, einsam zu sein“.

Bei Bukowski finden sich ohnehin die besten Sprüche. „Für Terror bin ich hier zuständig“, sagt Taliban, nachdem er die Knarre gezogen und in die Luft geschossen hat, um die Schwiegereltern in spe zur Raison zu bringen. Sie waren nah dran, sich selbst im Terror zu zerfleischen. Oder: „Sind wir mit oder ohne uns besser dran?“ Juchuh: Können und wollen die Jungen miteinander leben, wirklich, vielleicht sogar noch „80 Jahre“ – und ebenso die Alten, die erst merken, wie gehörig sie sich auf den Keks gehen, wenn da der Fremdvirus Schwiegersohn oder –tochter droht, gegen den sie keine ehekörperlichen Widerstandskräfte haben.

Ästhetisch ist alles drin in den Kurztexten: Farce, Kabarett, Comic, Sophokles und Dada. Warum auch nicht? Alle tiefen Mensch-Themen wie erwachte und zerfledderte Liebe oder Wildfohlen-Jugend gegen Couch-Alte in literarischen Topoi waren schon da – warum sie nicht in neue Form bringen? Wir fahren ja auch nicht mehr in der Kutsche…

Kotti Yun, Lisa, Martin Valdeig in "Die letzte Videothek"

Im zweckmäßigen Bühnenbild von Pia Wessels tobten sich auch die Regisseure und Regisseurinnen aus: als ob höchste Lorbeeren zu ernten wären, feilten sie an jeder Szene. Durchweg. Gar nicht so leicht, mit den Puppen (gebaut von Yvonne Beier) in der „Videothek“ (Regie: Carsten Knödler) – aber gelungen! Herrlich sprechend die Stühle- und Hinter-Tür-und-Fenster-Choreographie im Schlusstück „Vom Ende der Kindheit“ (Regie: Kalma Streun). Und alle besannen sich drauf, dass weniger manchmal mehr ist, wie die Probenfotos im Programmheft zeigen. Sie kickten das Videobandgewussel („Die letzte Videothek“) ebenso in den Orkus wie die Kettensäge in „Taliban“.

Scheinbar Friede, Freude Eierkuchen: Die Chemnitzer Truppe in "In Transit"

Die Regisseure einzeln aufzuführen wäre genauso unsinnig und ungerecht wie ein Urteil über einzelne Schauspieler. Eine Ausnahme sei uns gestattet: Wir vom Förderverein haben uns gefreut, wie gut die beiden neuen Schauspielstudenten (die eigentlich noch gar nicht da sind), eingeschlagen haben: Paul-Louis Schopf und Stella Goritzki (beide kommen von der Anton Bruckner Privatuniversität Linz). Nö, sei’s drum, machen wir noch zwei Ausnahmen: großartig als Eltern Ulrich Lenk und Susanne Stein, und die beiden frechen Berliner Youngster Kinga Schmidt und Franziska Krol. – Aber nochmal: alle waren gut, passend, saftig.

Großer Beifall für einen mitreißenden Abend. Hammer!

Noch dreimal ist die Produktion in Chemnitz zu sehen: heute, morgen und übermorgen, jeweils 19:45 Uhr vor, später im Ostflügel. Im Herbst eröffnet sie dann in Berlin die neue Bühne 3 des Theaters an der Parkaue. Die beiden Chefs, Carsten Knödler und Kay Wuschek, haben uns (und ganz offensichtlich auch der bühnenfüllenden Schar von Autoren, Regisseuren, Schauspielern) mit dieser Co-Produktion viel Freude gemacht. Toi, toi, toi allen für Berlin. Und hoffentlich ein Wiedersehen in der nächsten Spielzeit in Chemnitz.

Die Stücke/Autoren/Regisseure

Toleranzig: „Los geht’s“/Bonn Park/Katrin Henschel

„In Transit“/Nis-Momme Stockmann/Silke Johanna Fischer

„Einfach nur Hallo“/Lutz Hübner/Kay Wuschek

„Die letzte Videothek“/Thilo Reffert/Carsten Knödler

„Taliban“//Oliver Bukowski/Kathrin Brune

„Vom Ende der Kindheit“/Gesine Danckwart/Kalma Streun

Die Schauspieler

Berlin: Birgit Berthold, Franziska Krol, Kinga Schmidt, Konstantin Bez, Jonas Lauenstein, Denis Pöpping

Chemnitz: Magda Decker, Susanne Stein, Ulrich Lenk, Paul-Louis Schopf, Sophie Bartels, Kotti Yun, Arne van Dorsten, Martin Valdeig, Stella Goritzki

Michael Bartsch ist genauso begeistert. Siehe nachtkritik.de