Hopp, Hopper!

Es wurde ein (teilweise) berührender Abend am Samstag im nicht gut gefüllten Opernhaus. Das Publikum zeigte sich gespalten: Herzlicher, warmer Beifall für die Tänzerinnen und Tänzer – Diskussionen nach dem Ende darüber, was wie erzählt worden war, und wie es zu verstehen wäre. Schlaglichter:

Ballett muss man nicht verstehen. Tanz ist Ausdruck. Individueller Ausdruck. Yiming Xu schaut, „ob es sich bei einem Tänzer eher um eine romantische, eine nervöse oder eine coole Person handelt“ („Gespräch“ im Programmheft). Reiner Feistel gibt den Solisten zwar „ein Bewegungsvokabular“ und seine „Idee der Geschichte“ mit, lässt sie aber dann „ihre ganz eigenen Interpretationen“ finden. Das führt zu wunderbar ästhetischen Sehnsuchts-Bildern (Morning Sun), kann aber auch in epileptischen Zuckungen rüberkommen – nicht alle Menschen leben auf der Sonnenseite.

Hoppers (1882 – 1967) Bilder sind realistisch, aber die Moment“aufnahmen“ spiegeln nicht die Realität des Vorher, Nachher, Drumherum des Menschenlebens. Genau das reizte wahrscheinlich den Unruhegeist Reiner Feistel – diese unsägliche Ruhe… Hopp, Hopper! Du musst laufen und tanzen! Aus dem Abbild von Realität in Hoppers Bildern schafft Feistel (getanzte) Realität auf der Bühne. Das gelingt. Oft. Sehnsucht ist zu spüren, Alleinsein. Hoffnung, Erwartung. Nachdenklichkeit. Auch Einsamkeit und Melancholie.

Feistel verdichtet die Geschichten (meist) auf Paare, die einander finden – oder auch nicht. Die schließlich kurz miteinander tanzen – Männer mit Frauen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, auch schon mal im Dreier. Was den Feistel-Teil spannend und auch wieder augenverdrehend macht: die Tiefe in Hoppers Bildern wird auf die Bühne übertragen – das Auge kann kaum alles erfassen, was da hinten und vorn und links und rechts und überall abläuft. Können sich Menschen nie bleibend treffen? Gemeinsam durch ihr weiteres Leben tanzen? Lieben? Arbeiten? Quatschen? Das Büro, das Café, der Porch – Lebensorte…

Faszinierend, wie Hans Winkler (Bühne und Kostüme) Hoppersche Atmosphäre nachzaubert. Die Kostüme – detailgetreu, die Bühne: Hopper, wie er leibt und malt, aber in der Tiefe und der Wandelbarkeit in der Dreidimensionalität ver- und berückend. Selbst das „Schocken“ macht da großstädtischen Hinterhof-Eindruck. Warum schaffen eigentlich in unserem und der Künstler Kopf so viele Nachtbilder, Hinterhof- und Straßenszenen den Eindruck von großstädtischer Einsamkeit? Noch einmal: „Morning Sun“, die große Ausnahme (mit einer begeisternden Alanna Saskia Pfeiffer) …

Yiming Xu setzt mehr auf das Ensemble, in das Zweisam- oder Zweiunsamkeit eingebettet sind. Während bei Feistel der Blick auf Individuen fokussiert scheint, die Ich und Du bleiben, leider, ist halt aber so, wegen Großstadt-Klischee, schwirren dem Chinesen, der Hopper vor Chemnitz nicht kannte, andere Dinge im Kopf rum: wie Macht und Ohnmacht miteinander umgehen und scheitern, wie eine Gesellschaft (ob chinesisch oder amerikanisch oder europäisch) sich trennt in Typen oder Schafherden – Xu führt sie bisweilen wie Gefangenenchöre oder wie uns Schäfchen, die wir gemeinsam vor der Ampel stehen und dann gehorsam über den Zebra stapfen. Wenn wir nicht mutig sind – denkende, sinnierende Hopper-Individualos, schnaufen wir sogar im Gleichtakt. Der zweite Teil des Abends ist politischer als der erste. Macht und Ohnmacht, wo vorher Liebe und Sehnsucht getanzt waren. Hoffnung aufkreuzte und Verlust beklagt wurde.

„I‘ll Never Smile Again“ – Frank Sinatra hat den Song zusammen mit Tommy Dorsey (nur) berühmt gemacht. Komponiert hat ihn eine junge Kanadierin, Ruth Lowe, die um ihren Mann trauerte. Damit lässt Feistel den Abend einklingen und schafft auch gleich die Tonlage dafür. Das passt, das ist gut. Der Song wurde gerade mal zwei Jahre vor Hopper berühmten Bar-Bild (Nighthakws – Nachtschwärmer, eigentlich Nachtfalken) veröffentlicht (1940), mit dem der Chemnitzer Abend in einem wow!-coolen Bühnenbild startet. Der Song wurde ein Renner – kaum ein Lied drückte so sehr die Einsamkeit der jungen Amerikanerinnen aus, die die Rückkehr ihrer Liebsten aus dem Krieg im fernen Europa zurückersehnten. So oft vergeblich…

George Gershwins „Summertime“, mit dem Yiming Xu den Abend enden lässt, ist schon fünf Jahre älter (1935). Musikalisch versöhnender Abschluss – aber nur, weil jeder die Melodie dieses Wiegenlieds kennt, mit der Clara „Porgy and Bess“ eröffnet – ahnend, dass der Krieg auf der Catfish Row viel Blut kosten wird.

Ansonsten haben die beiden Choreografen ganz auf zeitgenössische (amerikanische) Musik gesetzt. Kennt kaum wer. Passt aber im Mix zum Episodencharakter des Abends. Eindrucksvolle Stücke darunter (Michael Nymans Streichquartett) oder die chillige Filmmusik von Ludovico Einaudi. Bisschen gleichtönig das Ganze, immer an der Grenze zum „lass mich doch endlich in Ruhe“ des genervten Großstadtmenschen. Insofern passt’s. (Ich mag diesen Konservengleichklang trotzdem nicht, wo Geigen wie Sägen wirken, die den Gehörgang zerschneiden).

Gar nicht so pseudogleich die Damen und Herren der Chemnitzer Companie. Großartige, befreit tanzende Individualisten, trotz aller typisch Feistelschen Vorgaben. Tanzen ohne Musik, Verharren im Sinnieren, die Liegestütze, die Radebeuler Rollen, wie manche lästern – wir haben uns daran gewöhnt und sind gar nicht böse darum. Yiming Xu hat dem Chemnitzer Kollegen auch das eine oder andere abgeschaut – erstaunlich die Figuren-Parallelen, und auch wieder nicht. Was passt, passt.

Besonders die Damen haben es uns an diesem Abend angetan, im roten Kleid (Nela Mrázová), im orangen (Alanna Saskia Pfeiffer), im blauen (Helena Gläser) und die muntere Frohnatur im rosa-Nichts Isabel Domhardt. Vielleicht machen Kleider wirklich Leute. Die Herren waren ebenbürtig, aber halt im Anzug. Distanzierter. Hut, Weste, Keeper-Jacke – moderne Panzer um die Herzen.

Beeindruckend das Ensemble. Das Chemnitzer Ballett und seine Chefs haben wieder mal viel gewagt. Und gewonnen. Hohes Lob von Boris Gruhl gleich am Sonntag im mdr. Reiner Feistel, immer auf dem Weg „mich als Choreograf und damit auch das Ballett Chemnitz weiterzuentwickeln“, ist wieder ein Stück vorangekommen.

Die nächsten Aufführungen: 10., 12., 18., 25. November 2016