Herrlich, wenn sie losgelassen

„Nordlicht“ hatte am Freitagabend im Opernhaus Premiere. Für die „Südländerin“ aus Basel sind die Erfinder der drei Produktionen, die die unermüdlich international agierende Netzwerkerin (heute ist sie schon wieder unterwegs für das nächste Projekt nach Bristol) an Land zog, allemal Nordlichter: die Polin Katarzyna Kozielska, der Deutsche Marco Goecke und der Schwede Alexander Ekman.

Um des Letzteren „Episode 31“ spielen zu dürfen, stehen sich Ballettchefs und Intendanten die Füße in der Schlange in den Bauch. Nur die Besten schaffen es. Die mit den besten und fähigsten und kreativsten Companys. Das Chemnitzer Ballett hat eine tolle Aufführung hingelegt. Die hohen Erwartungen mehr als erfüllt.

Ekman gibt überall in der Welt, wo sein Stück aufgeführt wird, die Eckpunkte für ein vorgespanntes Video vor. Das Ballett muss raus, auf die Straße. Kunst nach draußen, Straße nah drinnen. Auf der Bühne kehrt der verrückte Alltag ein. Weiße Straßen auf dem Boden – gehst Du nach rechts, oder lieber nach links? Die Straßen verwandeln sich in einen Platz – oder in ein skurriles modernes Bauwerk, das Schutz bietet oder auch nicht.

Männer tanzen als Frauen daher, zumindest mit Halbrock, liefern sich wie Gladiatoren einen Zweikampf. Frauen, onduliert, dafür mit Bart, wachsen unmittelbar aus den Zwanzigern, jener verrückten Zeit, die golden war, aber auch den schwarzen Freitag brachte. Und in Deutschland die Nazis auf den Weg.

Paar hundert Meter von der Premiere weg am Nischel demonstrieren wieder (angeblich) tausend Unbelehrbare, die von den (angeblichen) Pro (lat. Pro = für) Chemnitz-Anhängern des Herrn Kohlmann aufgeheizt werden. Rechte Parolen, alles Fremde soll bös sein, Migranten erst recht.

Hässliches Bild.

Ein paar Wochen vorher waren die TänzerInnen und Tänzer zu Besuch beim ollen Marx. Tanzten fröhlich um den Kolossalkopf, stiegen auf einen Baum im Stadthallenpark – noch nie hatte einer von ihnen in einem Baum getanzt. Sie spritzten Figuren im Wasser des Stadthallen-Beckens, brachten Leben in die Rathausbude, feierten Party in einer CVAG-Straßenbahn. Und ließen ein Video davon drehen, das die Aufführung im Opernhaus einleitete. Schmunzeln und befreiendes Lachen bei den Zuschauern. So anders kann Chemnitz sein.

Und Ballett kann freiwillig/unfreiwillig politisch werden. Und trotzdem amüsant. Witzig. Dabei gespickt mit tänzerischen Schwierigkeiten. Und einer bis ins Letzte ausgefeilten Choreografie, die scheinbares Chaos ordnet. Wege zeigt. Auch die schönen Seiten des chaotischen Alltags. Sockenhalter (herrlich die ironischen Kostüme von Luke Simcock) braucht’s dafür nicht. Aber Willen. Und Kraft. Und ästhetisches Empfinden statt dumpfbraunem Gebrabbel. Und Energie – vom Kopf bis in Fingerspitzen und den kleinen Zeh.

Ganz anders geht Katarzyna Kozielska in der Uraufführung ihres Stückes „Unleash“ („Entfesseln“) damit um, wie wir uns immer wieder fesseln lassen, die Unfreiheit beklagen, aber trotzdem mit unserer Freiheit und der der anderen oft nicht recht umzugehen wissen. Da hängen alle Tänzerinnen und Tänzer an Gummi-Seilen. Verwirren und verirren sich. Finden sich in faszinierenden Bildern zusammen und werden wieder zu Einzelkrämern mit sprichwörtlich solchen Seelen.

Wir haben nur noch gestaunt über die Energie, die Körperbeherrschung, das Können unseres Balletts in diesem Stück. Alles drin. Vom Fast-Breakdance bis zur Spitze. Stechschritt auf Spitze. Das muss man erstmal können. Oder die Beine im Gleichklang hochrecken, dass sie drohen wie die Gewehre salvenbereiter Erschießungskommandos. Boah, ich war umgeben von Pilates, Yoga und sonstnoch wöchentliche Quälerei liebenden Damen – sie hatten nur noch schillernde Augen vor Bewunderung für diese – auch sportlichen – Leistungen.

Nochmal ganz anders Marco Goecke. Der folgt kuriosen Lebensanektdoten des großen Johann Sebastian. Bach bewegt, heißt es zu seiner „Suite Suite Suite“. Stimmt. Viele Choreografen, die größten darunter, haben Bach „vertanzt“. Die Kraft des Leidens in der Matthäuspassion. Die fast mathematischen Strukturen seiner Etüden, Passacaglien und Fugen. Goecke hört hinein in die Musik. Da wuselt es unter der Melodie voller dadadada-dadadada-unaufhörlichen Sechzehntel- oder Achtel-ketten (und wenn die Melodie fehlt, komponiert sie später vielleicht ein Gounod zum berühmten „Ave Maria“ dazu). Hier wuseln und zucken und flattern Hände, Arme und Beine expressiv bis (fast) epileptisch zur Musik, heben die Protagonisten zur hochaufschwingenden Geige ihre Blicke und sprechen mit dem Himmel, und zu strahlendem Blech geleiten sie hoch über den Köpfen tragend einen der Ihren ins (himmlische, sagenhafte?) Reich. Das war mit Sicherheit für Dich und mich nicht an fürstlichen Höfen. Herrlich die getanzte Persiflage auf menuettsches höfisches Zucht-Tanz-Zeremoniell.

Nela Mrázová und Emilijus Miliauskas tanzen berückende Soli und Pas de deux in dieser Suite hoch 3. Die Kolleginnen und Kollegen müssen einmal einen lebendigen roten Teppich abgeben. Autsch! Es sei uns verziehen, dass wir nicht die Solisten im einzelnen würdigen. Das war ein Abend des gesamten Ensembles, das herrlich aufeinander eingestimmt und eingetanzt ist. Voller Vertrauen auf- und Freude miteinander. Das sich jeden Tag quält bis zum Äußersten. Und Spaß hat an der Arbeit. Sabrina Sadowska hat aus Einzelkönnern eine Gemeinschaft gezaubert. Über die ganze Bühnenbreite nur fröhliche Gesichter. Stolz auf die eigene Leistung. Und Beifall von den Tänzern auch für das begeisterte Publikum, das das Experiment mitgegangen war und so herzlich angenommen hatte.

Draußen, auf dem Heimweg, am Nischel immer noch viele Polizeiwagen. Bedrohlich. Und Du denkst an die Lebensfreude aus dem Video von vorhin. „Am liebsten hätte ich“, sagt die Ballettchefin als eigene Kommentatorin in dem Streifen, „dass ganz Chemnitz auf die Straße geht und es nachtanzt.“ Wie recht sie hat.

Folgetermine: 27.10.; 09.11.; 17.11.; 30.11.2018; 20.01.; 01.02.2019