Heißer Beifall für die „Winterreise“

Ballettchefin Sabrina Sadowska hatte wieder mal ein glückliches Händchen, als sie Robert Bondara für die Choreografie auswählte. Das „tanz Jahrbuch 2019“ hat ihn eben als einen der “Hoffnungsträger” ausgezeichnet. Der Pole, heute Künstlerischer Leiter des Teatr Wielki in Poznań, hat sich tief hineingefühlt in die deutschen Romantiker Müller und Schubert. Die Reise des Wanderers (wir erinnern uns an Uhland, Kreutzer, aber auch Wagner…) führt mehr ins zerrissene Innere als zu einem irdischen Ziel. Konsequent vervielfacht Bondara das poetische Ich des Sängers durch mitunter sechs Tänzer, die sich mit ihm bewegen, dann aber auch die Fragmente seines Fühlens und Erinnerns durcheinandern.

Dazu bedarf es eines Sängers, der nicht nur das Konzertpodium, sondern auch die Bühne beherrscht. Beinhauer (Bariton im Chemnitzer Opernensemble) kann das. Ob er am Bühnenportal erschöpft sein Inneres nach außen kehrt, im Eisgrab liegend die Verzweiflung an sich nagen lässt, oder ob er mit seinen Alter Egos zu Boden stürzt. Da steht nicht irgendwo ein Flügel an der Seite und davor der Sänger im Frack, gar noch mit Notenblättern, wie ich es befürchtet hatte, nein: Beinhauer spielt mit. In jeder Phase und mit jeder Faser seines Körpers. Seinem Singen tut das keinen Abbruch. Schubert verlangt viel von seinen Sängern, schon im Konzert. Hier schien es, als ob das Mitmachen dürfen in Beinhauer noch mehr Vielfalt des Timbres, noch mehr gestalterische Präzision freigesetzt hätte. Fast blind kann er auf seine Frau Anna vertrauen, die am Flügel im erhöhten, ausgeschnittenen Orchestergraben jede Nuance mitgeht oder vorgibt.

Bondara ließ sie, im schlichten Tänzerinnenkostüm, zu Beginn über die leere Bühne dahinschweben – niemand wusste, wer sie ist, was sie soll. Aber die Stimmung war dadurch festgelegt. Andreas Beinhauer dann, unerkannt im Halbdunkel zwischen seinen Alter Egos, mit denen er sich perfekt harmonisch bewegte, war erst auf den zweiten oder dritten Blick zu identifizieren unter all den schwarz-weiß-Figuren vor den vom Bühnenhimmel schwebenden Eisschollenfragmenten, die so kalt und zerrissen sind wie das Innere des lyrischen Ichs, das da singt.

Das ist alles nicht vordergründig. So wie Bondara sich beim Beifall vornehm zurückhält und nicht den bejubelten Chef im Ring spielt, so wenig mit der Faust aufs Auge inszeniert er die Choreografie der inneren Gedankenwelten. Dabei verzichtet er bei den Tänzerinnen und Tänzern (darunter Nela Mrázová, Soo-Mi Oh, Raoul Arcangelo, Jean-Blaise Druenne) nicht auf Höchstschwierigkeiten, wie wir sie aus dem klassischen Ballett, der modernen Ästhetik, ja selbst der Athletik kennen. Das ist keine pure Bebilderung des Gesungenen, das ist Ausdruck pur, ob auf Spitzen, im Schweben in der Horizontalen oder im spielerischen Erklimmen eines Körperbergs.

Das Balancieren am Abgrund (auch ein Stück ausgesparten Orchestergrabens), das Hineingezogen- oder -geworfenwerdens in die Tiefe, die schlichte, reine, ganz und gar unkalte Lieblichkeit der (hinzugefügten) Sehnsuchtsgestalt, das warme Licht der Erinnerung („Die Post“) an die Zeit der wärmenden Gemeinsamkeit, die fast unmerklich eingefügten Videos (Bühne, Kostüme, Video und Licht: Hans Winkler und Holger Reinke) sorgen ohne Wink mit dem Zaunpfahl für Atmosphäre – genauso wie das Huschen der Gestalten quer über die Bühne und zwischen und mit den spiegelnden Eisschollen, oder das Abstürzen zu manchen Liedenden in tödlicher Vereinsamung.

Der Leierkastenmann am Ende wird von den vereinsamten „Toten“ nicht mehr gehört, die Alter Egos liegen stumm und bewegungslos, das poetische Ich des Sängers wandert mit dem Leierkastenmann in eine Zukunft im Dämmerlicht – ob die graue Welt nachtdunkel wird oder tageshell bleibt offen. Kein Blackout, Vorhang runter, Beifall. Ganz langsam erlischt das Licht, die Zuschauer sind noch (und wieder) gefangen in der Stimmung der Stille, die sie ganz im Anfang gefangen hat.

Dann aber prasselt der Beifall los, viele Bravi (donnernd auch vom Sängerkollegen Siyabonga Maqungo, der weiß, was die Beinhauers da geleistet haben). Das Ballettensemble Chemnitz hat einmal mehr gezeigt, zu welch formidabler künstlerischer Einheit, technischer Perfektion und Beherrschung aller Stile  es in den letzten Jahren gewachsen ist. Mit einem solchen Ensemble geht Sabrina Sadowska kein Risiko mehr ein. Auch nicht mit der „Winterreise“.