Im Plot beider Dramen ist vieles ähnlich. Albee hat seinen Ibsen gelesen. Philipp Otto (Protagonist in beiden Produktionen) wechselt zwar das Hemd (beidesmal hässlich, wie kann man so nur rumlaufen, dankt Marthahedda), bleibt aber als Tesman wie der George bei Albee der wissenschaftliche Kleingeist, der es nicht zum Professor oder Rektor schafft, ein gesellschaftliches Weichei, mit dem Frau Ich-will-mehr-aber-ich-weiß-nicht-was nicht renommieren kann. Noch nicht einmal ein Reitpferd springt raus. Die Pfeife schafft‘s nicht. Ab auf den Müll.
Besser wäre da der Konkurrent – schöner Schein, erfolgreicher, freigeistiger: ein Mann (klasse, die Charakterstudien von Stefan Migge). Wenn man ihn nicht kriegt, erschießt man ihn. Wenn frau den Mut dazu hat. Hat Hedda Gabler nicht. Sie hat Langeweile. Mut (und Taten) sollen die anderen haben und vollbringen. (Marthas Fick auf dem Küchentisch bei Albee ist auch keine Tat.)
Hie Martha, die Tochter des berühmten College-Chefs, dort Hedda, die Tochter des berühmten Generals Gabler. Beide (Früh-)Emanzen hängen innerlich am Alten, eigentlich an dessen Strahlkraft, auch wenn sie Macken hat. Hedda hat immerhin zwei Pistolen geerbt. Machtinstrumente. Einmal im Leben will sie Macht über einen Menschen haben. Hat sie nicht. Nur am Schluss – endlich – über sich selbst. Schieß doch Hedda! Macht sie dann auch. Aber es dauert lange.
Auch das Stück dauert (zu?) lange. Etwas für die Ohren all derer, die von der Bühne Texte hören und verstehen wollen – sie werden es lieben. Knödler hat den Text moderat knapper schleifen lassen. Aber richtig kürzen, das ist bei Ibsen schwierig. (Auch die anderen aktuellen Inszenierungen im Residenztheater München, am Piccolo teatro in Mailand, an der Schaubühne, im Deutschen Theater sind kürzer nur, wo die Pause gestrichen wird. – Hätte hier auch Sinn gehabt). Zu viel muss erzählt werden. Weil Ibsens Dramen eigentlich keine Dramen sind. Drama (griech.) heißt Handlung. Bei Ibsen geht nur im Inneren was vor. Oder die Figuren machen sich was vor. Bei Hedda Gabler alle.
Da ist die alte Tante Julle (Christine Gabsch). Gibt vor zu leben. Lebt aber nur, wenn sie anderen beim Sterben oder Kranksein zuschauen und sie umtütteln kann. Angeblich für, wirklich aber von anderen und deren Schwäche und der daraus resultierenden eigenen relativen Stärke zu leben ist nicht Nächstenliebe, das ist Eigenliebe. Lebenslüge. Christine Gabsch spielt die alte Jungfer wie eine Kupplerin, die sich als Missionarin des Guten vorkommt.
Da ist Brack, der Richter. In anderen Übersetzungen der Assessor. Ein Mann des Rechts. Eigentlich. Wirklich ein Mann des „Dreiecks“. Wo was nicht von A zu B geht, macht man rasch ein C dazu. Wenn Brack Hedda nicht allein haben kann, ist auch ein „Dreiecksverhältnis“ drin (steht so nicht im Text. Da steht nur Dreieck. „Verhältnis“ haben die Chemnitzer zur besseren Verständlichkeit eingefügt). Bei Ibsen leben Menschen nie direkt. Sie verirren sich immer mindestens in einem Dreieck der Beziehungen. Brack, der Richter und Erpresser. Ulrich Lenk gibt ihn so devot wie schmierig und als Herr über den Dingen. Meint Brack von sich. Lebenslüge. Ein Wurm, den Hedda allein mit Blicken zertreten kann.
Da ist Frau Elvsted. Die Frau des Amtmanns. Die zu „ihrem“ Eilert flieht, mit ihm das Kind eines Buches zeugt, ihre Seele hineinhaucht. Und als er (schlimmer als den „Mord“ am Kind der Mutter zu bekennen, sei, meint Eilert, zuzugeben, dass man es schlichtweg verloren hat) das Kind nicht mehr hat, ist auch die Mutter wertlos. Doch die bastelt sich aus Fetzen der Erinnerung ein neues Kind, meint sie. Lebenslüge. Maria Schubert ist die naive Träumerin, deren Tun im blöde Gucken endet.
Denn auch ihr Helfer bei dem Zettelkram der Zeugung, Jørgen Tesman, kann ihr nicht wirklich helfen. Er ist ein Krümelkacker, der meint, Millionen Krümel in Archiven gesammelt (auf der halbjährigen Hochzeitsreise!) ergäben ein schlaues Buch und ein „Amt“ und damit die Achtung seiner Frau. Nicht deren Liebe. Tesman liebt seine tantchengeerbten Pantoffeln. Nicht seine Hedda. Obwohl er es meint. Lebenslüge. Er sortiert Zettel, während sie sich erschießt.
Und so sitzen die drei am Ende ratlos und schauen in die Welt, die ihre ist, und von der sie nichts verstehen, und die sie nicht versteht. Verlorene Individuen. „Mit seiner Arbeit will er die Notwendigkeit einer bewussten Einstellung zum Leben artikulieren und den Rezipienten die Möglichkeit der Veränderung aufzeigen.“ So steht’s im Programmheft. Im alten. Mit „er“ ist Albee gemeint. Hätte auch bei Ibsen gepasst.
Florence Matousek spielt dieses Monster von Hedda. „Ich bin laut und ich bin vulgär und ich habe die Hosen an in diesem Haus… Aber ein Monster bin ich nicht“, sagt Martha bei Albee. Auch Hedda würde sich nie als Monster sehen, weil Monster immer die anderen sind. (Samt dem weiß gekleideten Geist aus der Vergangenheit, Berte, die Susanne Stein – die Martha aus „Virginia Woolf“ – hier wunderbar als Gegenentwurf spielt.) Und weil die anderen zu doof sind, das zu erkennen oder zu ändern, nicht einmal fähig sind, „in Schönheit zu sterben“ wie Eilert (der sich statt schön in die Brust oder die Schläfe in den Unterleib und die Därme rausschießt), und weil sie weiß, was sie nicht sein will (Mutter zum Beispiel), aber nicht weiß, was sie sein will, macht sie Schluss. Peng. Der Tod als Erlösung.
Ludwig II., der Kini, von allen geliebt, aber unverstanden, verzichtete auf die Pistole und ging zur Erlösung in den Starnberger See. Das war gerade mal knapp fünf Jahre, bevor Hedda Gabler in München uraufgeführt wurde, wo Ibsen damals lebte. Der Individualist auf dem Thron hatte für die Gleichschritt-Kollegen aus Preußen und sonst wo so wenig Verständnis wie Hedda Gabler für die Welt ihres Generals-Vaters, von der sie doch nicht loskam. Die Welt war im Umbruch. Ibsen war einer der ersten, der Wichtigste allemal, der in seinen Dramen dem militärischen und bürgerlichen Gleichschritt das Individuum entgegensetzte. Eine Lösung gab’s noch nicht. Noch durfte das Individuum nicht siegen. Seinen Dreck alleene machen. Noch war unvorstellbar, was 1918 passieren würde…
Carsten Knödler hat eine feine, subtile Arbeit zum Auftakt seiner Direktorenzeit vorgestellt. Schöne Details. Gute Idee, die Manuskriptblätter im Pistolentresor aufzubewahren. Da zuckt sie – wird Hedda Eilert das Manuskript geben, fragt sich der Zuschauer, der das Stück nicht kennt, oder die Pistole? Oder Heddas vorbereitender Sofatanz im Glamourkleid für den „Tod in Schönheit“, wenn schon das Leben nur hässliche Langeweile ist…
Zentral aber fügt Knödler in der Hälfte eine Szene ein, die nicht im Textbuch steht. Von der später (eigentlich) nur erzählt wird. Eilert Løvborg im Kampf mit dem Alkohol und der „Sängerin“ Diana – die angeblich schuld ist am Verlust der Manuskripts und in deren Etablissement er sich schließlich entmannend umbringt. Alles nach außen gekehrt, was sich sonst im Innern abspielt, da ist was los (hinten) auf der (Dreh-)Bühne, Dramatik pur, ohne Worte (wenn auch wieder Alkohol über die Birne geschüttet wird, wie es schon Nick mit George im Albee praktizierte. – Kleine Randbemerkung: Dass Brack betrunken die Blumenvase aussäuft – na ja. Das könnte bei Dinner for one bleiben…).
Konsequent wie die Figurenzeichnung auch das Bühnenbild (Frank Heublein). Knödler, lang genug in Karl-Marx-Stadt und Chemnitz, weiß natürlich, welche Revolution die Villa Esche zu Zeiten der kaiserlichen Architektur war. Und wenn auch der Jugendstil erst sieben Jahre nach der „Hedda Gabler“ geboren wurde – die Bühnen-Villa als Symbol des Umbruchs jugendstilig eigenwillig zu machen und dadurch auch äußerlich den Ausbruch Hedda Gablers aus der alten Welt zu symbolisieren, das ist gekonnt. Einfach nur gut.
Viel Beifall vom Publikum. Gefühlt ein bisschen verhaltener als bei „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Ibsen, der (fast schon) Klassiker, Albee, der Heutigere – spannender Zweikampf. Nicht nur Carsten Knödler dürfte gespannt sein, wie das Publikum abstimmt…
Die nächsten Aufführungen von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am 25. Oktober, 2. November, 14. Dezember, 17. Januar.
Die nächsten Aufführungen von „Hedda Gabler“ 11., 13. und 23. Oktober, 16. November
Das Video zum Stück