Hare Krishna im Küchwald

1968, als die Texter Gerome Ragni und James Rado und der Komponist Galt MacDermot ihr Musical am Broadway erlebten, war die Gesellschaft in den USA durcheinander – die jungen Leute wollten die Polizistenordnung im Land, in den Familien und als Weltpolizei in Vietnam nicht mehr hinnehmen. Die „Hippies“ suchten ihren eigenen Weg, der sie ein Jahr später, im August 1969 zu Tausenden nach Woodstock führte… Lange Haare waren ihr Markenzeichen, freien Sex wollten sie, keine Bevormundung durch irgendwen, schon gar nicht durch die spießigen Eltern. Und Friede sollte endlich herrschen auf der Erde, nicht der Krieg mit all seiner Hässlichkeit, der jeden Abend Vietnam in die TV-Nachrichten spülte.

In Deutschland West formierten sich wie in Paris die 68er gegen das Establishment, vor allem an den Unis. Und „Haare“ wurde Gänsehaut-Musik für die, die unter der Zucht der Bürgerlichkeit zu leiden hatten, aber auch – in ganz anderer Weise – für die,  denen eine ganze Generation entglitt. In meiner Heimatstadt wetterte der katholische Dekan von der Kanzel  gegen die Morallosigkeit dieser Langhaarigen, die sich nicht schämten, sich zu Dutzenden in diesem „Dreck“-Musical auf der Bühne nackt zu präsentieren.  

In Chemnitz gibt’s in „Hair“ die Langhaarigen nicht. Das Musical könnte ganz anders heißen. Die Demo-Schilder bleiben vielsagend leer. Der Protest gegen Prüderie und freien Sex wird einmal ganz fein angedeutet. Die 14 Mitspieler tragen nicht Hippie-Klamotten, sondern fast elegantes Weiß, manchmal, ok, vielleicht ein bisschen schräg. Sie bewegen sich zwischen den nett Love-beschrifteten Container-Käfigen im Hintergrund (irgendwie sind wir alle nicht nur in Corona-Zeiten, in uns selbst gefangen und wollen/müssen ausbrechen. – Bühne: Sam Madwar) und den weiten Bühnenebenen in bis zur halben Ekstase wohldosierter Choreografie (Jerôme Knols). Selbst die Kriegsszenen sind ästhetisch „schön“ zum Umfallen. „Peace“, „Love“, das sind auch die Botschaften, die Thomas Winter in dieser Luxus-Protestvariante des Musicals rüberbringen will, und vor allem „Sei Du selbst. Mach was Du willst. Aber tu keinem weh“. „Richtig?“, „richtig?“ – und noch ein paar Mal, bis das Publikum „richtig“ einstimmt. Na ja.

Protest gegen Elternsicht wird eher als humorvoller Sketch gezeigt, Wut wegen Rassendiskriminierung ist nicht spürbar. Die nach dem Scheinkrach auf Facebook nachträglich engagierten „coloured people“ Michael B. Sattler und Sidonie Smith fügen sich nahtlos ins Ensemble ein – ohne gesonderte dramatische Aufgabe. Die Dreiecks-Liebesgeschichte zwischen Berger, Claude und Sheila, und die Rolle von Jeanie spielen keine große Rolle. Im Original war die Geschichte wichtig (und spannend), weil auch bei Hippies nicht alles Gold ist, was glänzt.

Die Musik von Galt MacDermot ist an vielen Stellen ohrwurmig. Jakob Brenner (beherrschend am Keyboard) begleitete mit einer kleinen Band einige herausstechende Solonummern (vor allem von Berger/Dennis Weißert, Claude/Jannik Harneit und Sheila/Jeannine Wacker), aber auch die „Hits“: „Aquarius“, „Hare Krishna“ oder „Let The Sunshine“. Akustisch ist die Küchwaldbühne schwierig. Nicht alles kam über die Lautsprecher rüber. Dafür war die Lichtgestaltung  (Holm Grünert) Sonderklasse. Sie wurde nur getoppt von den zwischenzeitlich herrlich in sonnenuntergangsrosa getauchten Wölkchen am blauen Himmel.

Die nächsten Aufführungen: heute Samstag, morgen Sonntag und dann jeweils am 3., 4. und 5. September, jeweils 19.30 Uhr.