Gott ist nicht taub. Aber es gibt ihn

Mal abgesehen davon, dass jeder Dirigent solche Werke mit einem (fast) Hundert-Mann-und-Frauen-Orchester liebt, weil er und seine Musiker dafür vom Publikum geliebt werden. Mal abgesehen davon, was das für eine fantastische Leistung des Orchestermanagements ist (großes Kompliment an Orchester-Direktor Raimund Kunze), solch ungewöhnliche Besetzungen und das noch in Grippe-Zeiten zusammenzubringen: fünf Flöten bei Strawinsky, sechs Hörner bei Strauss, fünf Trompeten bei Strawinsky und gleich zwei Tuben bei Strauss, zwei Harfen will der Zarathustra-Bayer auch noch, dafür verlangt der Russe zwei Klaviere und ca. 20 Celli und Kontrabässe, lässt dafür Geigen und Bratschen weg, und nebenbei – welches Orchester hat schon vier Oboen und ein Englischhorn, und wo sind sich die Solo-Oboisten nicht zu schaden, gleich miteinander zu spielen? Die Rundfunkanstalten wussten schon, warum sie gerade diese Kompositionen mit der Robert-Schumann-Philharmonie übertrugen. Auf die ist Verlass. Organisatorisch und im Klang.

Verrücktes Programm eigentlich: Der Gottes-Töter Nietzsche auf der einen, der Psalmodierer Strawinsky auf der anderen Seite.  Haydn, der in der 99. Sinfonie erstmals Klarinetten einsetzt, Strawinsky, der ganz auf sie verzichtet. Und dann spielen sie den Haydn auch noch im Stehen. Soll zu Haydns Zeiten üblich gewesen sein. Aber damals gabs auch noch keine Dirigenten für solche Sinfonien. Dafür dirigierte García Calvo seine Musiker mit bloßen Händen, dass sie sängen, dafür leitete er die Chorsinfonie von Strawinsky gegen den Usus mit Taktstock. Das alles aber hatte Sinn. García Calvo weiß, was er tut.

Einen Haydn oder Mozart zum Aufwärmen zu spielen, ist üblich, aber riskant. García Calvo hatte die stehenden Musiker (nur Celli und Bässe durften sitzen. Gestattet) sofort auf Betriebstemperatur. Die brauchten sie dann auch für den Strawinsky. Der Russe gestand, dass er „lange gebraucht hat, um für sich zu erkennen, dass Gott nicht durch eilende Musik im Forte gepriesen werden sollte“ (zitiert nach Carla Neppl im Programmheft, die wiederum äußerst lesenswerte Beiträge geschrieben hat). Schließlich ist Gott nicht taub. Aber dann gingen mit ihm doch die Gäule durch. Und gerade seine Forte-Stellen sorgen dafür, dass Gott auch hört, was die Erdenwürmer ihm zurufen (im 1. Psalm 39, 13 heißt es „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm ein Schreien“). Der Chemnitzer Opernchor (Einstudierung Stefan Bilz) und der Extra-Chor (den Pietro Numico vorbereitete) gaben alles – laut, nie ganz leise, aber tonlich immer rund, bittend. Und doch, der Einwurf sei gestattet, das „Halleluja!“ des dritten Teils/Satzes (Psalm 150) rührt das Publikum lange nicht so wie das berühmte Händel-Halleluja, das so einfach, aber grandios gestrickt ist gegenüber dem hochkomplizierten Strawinsky-Satz. Gar nicht zu reden davon, wie schwierig der Zwischenteil ist mit diesen verrückten Bläser-Harmonien. Alle Orchester-Hölzer der Welt haben davor Manschetten. Die Chemnitzer machten das klasse.

Strauss und Zarathustra – Strauss klopfte sich hinterher auf die Schulter für das „Formvollendetste“, was er je geschaffen habe. (Nebenbei: entweder ist was vollendet oder nicht… Aber Strauss war Kompo- und nicht Germanist). Wir lassen jetzt mal die ganze Philosophie und die müßige Frage auf der Seite, ob Strauss Nietzsche oder Zarathustra musikalisch bebildern wollte, oder ob er nur wieder eine Bestätigung finden wollte, dass er „doch wider ein ganzer Kerl“ sei und „wieder einmal ein bisschen Freude“ an sich spüren wollte, was – glaubt man den Chronisten – durch seinen Hausdrachen Pauline nicht ganz einfach war.

Die nicht mal zwei grandiosen Minuten Einleitung werden rauf- und runtergespielt. In Filmmusiken und sonstwo, wo Spannung erzeugt werden soll. Aber dieser „Zarathustra“ ist in der Tat ein Meisterwerk der Form, genial im Aufbau und der Ausführung – herrlich die Streichsextette, die an die „Capriccio“-Einleitung erinnern, die umwerfend einfach klingenden (aber nicht leicht zu spielenden) Soli der hohen Streicher, besonders der ersten Violinen (großartig Hartmut Schill und Ovidiu Simbotin), die Fuge, die Strauss „grauslich“ machen wollte, dieser fast groteske ¾-Tanz, dem die Mitternachtsglocke ein Ende bereitet. Es gibt die Erlösung. Es gibt einen Gott.

Machen wir’s kurz: García Calvo, die Robert-Schumann-Philharmonie und der Opern- und Extrachor der Oper Chemnitz haben einen denkwürdigen Abend präsentiert –  voller Überraschungen, mit Können und Wollen, mit Liebe zur Musik und Achtung voreinander. Ein Strauss-Klang, den sich auch die mit Strauss protzenden Dresdner gern mal anhören sollten. Was für eine überragende Leistung! Die Radio-Leute wissen, was da in Chemnitz geleistet wird.

Aber- Verzeihung nach solch einem Abend – in der Stadt selbst ist man sich dieses Juwels oft nicht so sehr bewusst. Schon gar nicht, wenn’s um Tariferhöhungen geht. Schade, dass diese grandiose Truppe der Angestellten einer städtischen Tochtergesellschaft nicht davon profitieren darf, was für die anderen städtischen Kollegen-Angestellten nach dem jüngsten Tarifabschluss eine Selbstverständlichkeit ist. Sie kriegen mehr. Es sei ihnen gegönnt. Von Herzen. Aber wo bleibt der Dank für Musiker, die für Chemnitz einen Ruf in die Welt hinaustragen, der kaum bezahlbar ist?