Goethe kopflos, Lenz unterm Arm. Und Kant spinnt auch.

Das Chemnitzer Schauspielstudio, vor drei Jahren vom Förderverein gerettet, wollen wir aus diesem Theater nicht mehr wegdenken. Himmel, wenn junge Leute spielen, was wir kaum zu denken wagen, oder gar dazu zu faul sind – gibt’s was Besseres, als unsere grauen Gehirnzellen auf Trab zu bringen und unser Denken nicht aus Facebooksposts und Zeitungsartikeln zusammenzusetzen?

Lenz ist allerdings auch der Prototyp dafür, wie Überdenken, Überfühlen, Überwollen irr machen kann. „Es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“ Das ist der Schluss der Büchner-Novelle Lenz (falls sie kein Fragment ist, was ich nicht glaube). Wenn wir Wurm werden, und nicht mehr wissen, was Erde ist, wenn Regen für uns Regenschirm bedeutet, weil wir nass werden können, dann können wir uns gleich begraben lassen. Vor sich hinleben – o Mist! Was können wir dagegen tun?

Kathrin Brune gibt keine Antwort drauf. Sie wäre auch bescheuert. Presse ist da, Antworten zu geben. Theater muss Fragen stellen. Existenzielle, wenn’s geht. Lenz hat nicht nur gefragt, wer bin ich? Oder (philosophischer) warum bin ich? Sondern auch: Wohin stürme ich, wohin dränge ich? Zu dem Ziel, das Herr Vater mir (und jeder Trainer seinen Spielern und jeder Chef seinen Mitarbeitern) vor die Augen hält? „Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig“, lässt Büchner Lenz resümieren. Ich kotz mich an, wie die ungeschickten Kreidekonterfeis an der Wand, und die Gesellschaft kotzt mich an – so radikal wie die Stürmer und Dränger, vor allem Lenz, war niemand mehr, auch nicht die Existenzialisten.

Brune hat Lenz ausgeweidet („Hofmeister“), Büchner (Novelle „Lenz“) und sich auch bei Peter Schneiders Erzählung „Lenz“ (1973 im Rotbuch-Verlag, hony soit, qui mal y pense) bedient, der Trauerbibel der enttäuschten Linken, als sie in den 70er-Jahren erkennen mussten, dass die 68-er grandios gescheitert waren. Sie hat auch Kant zur Brust genommen: Dessen aus der Antike geklautes „Sapere aude“ („wage zu denken“) begründete die Aufklärung. Half aber auch nicht dabei, dass viele ach so Aufgeklärte im Osten bei der Wiedervereinigung denklos die Westmark in den Augen hatten. Aber da sind wir wieder bei Loserbestseller Schneider.

Spannender Stoff. Nicht zu erzählen. Collage ist das richtige Mittel. Was aber macht die Regisseurin Brune draus?

Erstmal teilt sie Lenz. Ganz banal. In vier Figuren. Vier Lenze. Jeder will was anderes. Wenn wir nicht wissen, was wir wollen, oder wenn wir alles wollen, werden wir auch verrückt. Oberhand hat mal der, mal jeder. Marionetten unserer selbst werden wir allemal. Gezerrt an Gummibändern oder im Blumenbett und Blumenbeet (tolle Idee: Elene Bulochnikova) begraben. Die vier verkrampfen zum Denkmal, stecken in einer Hose oder watschen sich. Brüllen sich an oder choren gräzistisch. Goethe klemmt sich kopflos (den Kopf von) Lenz unter den Arm. Sie rennen und schleichen durch die mittige Bühne – hautnah an den Ich’s auf ungemütlichen Hockern den Längsseiten entlang. Sie flüstern und überbrüllen Irrmusik, sehnen sich nach der „Kultur der Stille“, damit sie sich selbst erkännten, was sie gar nicht wollen („Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt“, heißt es bei Büchner).

Textcollagen lernen sich schwer. Bewundernswert, wie die vier Schauspielstudenten das packten (und sich gelegentlich aushalfen). Es wäre unfair, würden wir eine(n) hervorheben. Stella Goritzki, Paul-Louis Schopf, Christopher Schulzer (kommen von der Bruckner-Uni Linz) und Shana Sophie Brandl (Kunst-Uni Graz) machen bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in einem Stück in Chemnitz einen Superjob. Jede(n) würde man hinterher gern in den Arm nehmen und drücken (nicht nur die obligatorische Rose in die Hand). Kein Lenz-Ego. Der eine für den anderen. Oder gendermäßig blödsinnig: Der/die Eine für den/die Andere(n). Herrlich, wie sie (Hinweis auf die Lenz-Eselei, deretwegen Goethe Lenz von seinem Busen verstieß?) die Weimarer auf die Schippe nahmen und die dörflich-fürstschen Hofschauspieler mit ihrem aspirierten K-hhhh parodierten. Auf der Suche danach, was dem Menschen gut tut. Dem Ich. Das ohne Gesellschaft nicht sein kann. Und ohne Umgebung sich – hauch – im (Bühnen-)Nebel auflöst.

A propos Umgebung: Neu in dieser Spielzeit – das Bühnenbild wurde auch von Studenten gestaltet. Eine Fachjury wählte unter den Entwürfen (sind im Schauspielhaus im Durchgang zum Exil im Modell ausgestellt) von Studierenden des Masterstudiengangs Bühnenbild an der TU Berlin (Prof. Frank Hänig) das realisierte Bühnenbild und die Kostüme (Katarina Holková entwarf genderunspezifische Lenz-Fräcke und sorgte sich selbst um gleiche Haarpracht) aus.

Vier junge Menschen wollen Schauspieler werden. Gute. Die vier sind es schon. Die werden Karriere machen.