GMD-Kandidaten: Hohe Hürde für Christoph Gedschold

Eigentlich wollte Frank Beermann dieses Konzert dirigieren. Mahler liegt ihm inzwischen sehr am Herzen. Aber das Sinfonieorchester von „La Monnaie“ in Brüssel wollte ihn ausgerechnet jetzt am Pult haben. Das Orchester der bedeutendsten Oper in Belgien hat einen Zwei-Konzerte-Zyklus mit den vier Sinfonien von Robert Schumann geplant. Da kann man nicht nein sagen, aus persönlichen Gründen (das liest sich gut in der Biografie), aber auch, weil eine solche Einladung dem „eigenen“ Orchester und der Stadt Chemnitz Reputation verschafft. Und so dirigiert der Chef der Robert-Schumann-Philharmonie heute und am Sonntagabend in Brüssels schönstem Konzertsaal die vier Sinfonien von Robert Schumann und dessen C-dur-Fantasie. Toi, toi, toi…

In Chemnitz aber stand Mahlers 7. Schon lang im Programm. Was tun? Einspringer suchen oder Programm ändern? Christoph Gedschold erklärte sich bereit, Mahlers wohl ungeliebteste Sinfonie zu dirigieren. Der Magdeburger Gedschold ist zurzeit 1. Kapellmeister am Staatstheater Karlsruhe, hat viele Opern dirigiert, auch Wagner (nicht den „Ring“), auch zeitgenössische, und in vielen Konzerten Erfolge gefeiert. Beermann geht nach der nächsten Spielzeit. Gedschold steht als einer der Nachfolge-Kandidaten auf der Liste von Generalintendant Christoph Dittrich. Es ist wie im Fußball: Wer die Krone haben will, muss jeden Gegner schlagen. Hier heißt das, auch mit Mahlers 7. fertig werden. Es gibt bei Gott leichtere Stolpersteine für einen jungen Dirigenten. Und es gibt wohl nicht so viele Orchester, die dieses in jeder Hinsicht bis an die Grenzen führende Werk, einem jungen Dirigenten anvertrauen. Das zeigt, welch Selbstvertrauen die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie haben. Sie sind gut, und sie wollen den Besten als Chef.

Als Mariss Jansons mit dem Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks diese Sinfonie aufnahm, hieß es auf der Internet-Seite des Senders: „Eine gültige Einspielung der Siebten von Gustav Mahler stellt höchste Anforderungen an die virtuosen Fähigkeiten jedes einzelnen Orchestermusikers. Um aus den hochkomplexen Einzelstimmen ein großartiges Ganzes entstehen zu lassen … bedarf es dazu eines Dirigenten, der das Ensemble von Einzelmusikern mit Solistenniveau in einer übergreifenden musikalischen Konzeption vereinigt.“ Gut beschrieben.

Christoph Gedschold hat diesen Mahler – erst recht nach den ausgeweiteten Proben – intus. Er weiß genau, wann er wie agieren und reagieren will. Setzt beim Dirigieren den ganzen Körper ein – winkt schon mal mit Kopf oder Schultern einen Einsatz, hebt sekundenlang den linken „Aufpassen!“-Zeigefinger und formiert mit Zeigefinger und Daumen das Höchste-Präzisions-O, wenn die Oboe vom Horn das Thema eins zu eins übernimmt. Er lässt den Stab nutzlos in der linken Hand hängen, wenn er in die Knie geht und mit der Rechten die zweiten Geigen zu höchster Emotion bittet, er winkt kurz den Oboen zu, dass sie ihre Instrumente in die Höhe fanfaren wie die musikalischen Säulenengel im gotischen Dom.

Soviel Hände aber hat kein Dirigent der Welt, dass er jeden der bisweilen extrem verqueren Einsätze, die Mahler verlangt, geben könnte. Manchmal scheint es, als habe Mahler beim Blick auf die Partitur irgendwo noch ein Stück „Leere“ entdeckt und flugs noch ein paar Triolen beim Holz oder ein Flirren bei den Geigen angefügt. Oder gedacht, der Schlagzeuger hat zu lange noch eine Hand frei, an der großen Trommel gibt’s ja nicht nur Fell, sondern auch Becken und Holz…

Wenn das Ganze zusammenklingen soll, ist hohe Präzision nötig. Gerade in schwierigen Übergängen (davon gibt’s Dutzende). Da muss dann aber auch jeder Akzent sitzen, jedes Fortepiano rummsleise funktionieren. Und eine Unisono-Passage aller Streicher mit einem einheitlichen Crescendo dem vermeintlichen oder angetäuschten Höhepunkt zuzuführen, kurz gemeinsam Atem zu holen vor einem Krönungsakkord – das muss erstmal gekonnt sein.

Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie spielten angespannt und höchst aufmerksam bis zum Schluss nach 80 Minuten. Das verlangt geistige und physische Kraft ohne Ende. Den Streichern nach einem solchen Gewaltmarsch durch die musikalischen Alpen der 7. Sinfonie (Mahler hat sie in Maiernigg am Wörthersee geschrieben) noch solche Läufe zuzumuten, das ist typisch Mahler. Die Leute sollen sehen, dass sich alle anstrengen…

Er wusste, was und warum er es macht. „Ein verzweifelter Trompeter hat gefragt: ‘Jetzt möcht ich nur wissen, was da dran schön sein soll, wenn einer die Trompeten fortwährend in den höchsten Tönen gestopft bis zum hohen Cis hinauf blasen soll.’ Diese Äußerung hat mich sofort auf das Innere des Menschen gewiesen, der auch sein eigenes Jammerleben, das sich in den höchsten Tönen gestopft herumquälen muss, nicht begreifen kann, […] und wie dieses Gekreisch in der allgemeinen Weltensymphonie in den großen Akkord einstimmen soll.” (Mahler an seine Frau Alma).

Mahler und seine Weltensinfonie: sie verlangen von jedem einzelnen Mitspieler im Orchester höchstes Können, höchste Konzentration, höchstes Einfühlen. Das gilt nicht nur für die Solisten (1. Geige, Horn, um ungerechterweise zwei hervorzuheben), alle sind solistisch gefordert. Große Leistung der Musiker. Bewundernswert. Einen Mahler so zu spielen, das können nur Spitzenorchester. Die Robert-Schumann-Philharmonie ist eines.

Ob sie diese Woche unter dem künftigen Chef gespielt haben? Die Musiker ließen sich optisch noch nicht aus der Reserve locken. Sie schätzten, dass sich der Dirigent auch mal beim Beifall in ihren Reihen klein machte, dass er – durch vielfachen Händedruck mit Hartmut Schill – manifestierte, dass er dankbar war für die Chance, die ihm diese großartigen Musiker geboten hatten. Aber sie blieben auch nicht sitzen und ließen den Dirigenten mal allein „seinen“ Beifall abholen. Bei hundert Musikern gibt es zweihundert Meinungen. Da mögen die einen die Schlagtechnik (Gedschold ist sich nicht zu fein, im „Walzer“-Takt auch einmal alle drei Töne zu schlagen, damit der Übergang stimmt, nach dem er wieder in ganzen Takten dirigieren kann). Anderen setzt er mit dem Tenorhorn zu Beginn zu sehr einen Jericho-Effekt, der dann die ganze Sinfonie über eher Mauern einstürzen als das Gras einer Frühlingswiese nächtens wachsen hört. Wieder andere mögen einwenden, dass vor lauter Artikulation der einzelnen Stimmgruppen und Instrumente (Gedschold strukturierte ziselierend) große Bögen nicht immer erkennbar waren. Oder dass sich das romantisch Eichendorfsche der Nachtmusiken nicht genug vom Trollpurzeligen des Scherzos unterschied…

Sei es, wie es will. Die Entscheidung über den künftigen GMD fällt nicht heute oder morgen. Das 8. Sinfoniekonzert – das waren zwei großartige fordernd mutige Abende, für die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie, für Christoph Gedschold. Und für das Publikum.