Frühling lässt kein blaues Band…

Beermann traut sich was, aber er ist kein Hasardeur. Mindestens zwei sichere Gewinnoptionen warf er in die eine Programmschale, um die andere mit der schweren Kost ins Gleichgewicht zu bringen.

Da ist erstmal das Chemnitzer Publikum, das der GMD mittlerweile als sehr kunstsinnig kennt. Anfang März hatte Beermann bereits einen Probelauf für die Brentano-Lieder, mit denen er in Chemnitz den Abend eröffnen wollte, gestartet. Es gab viel Beifall in Minden. Nur leider nach jedem der sechs Lieder. Heißt: Konzentration futsch, Stimmung kaputt. In Chemnitz blieb das Publikum gebannt ruhig bis zum Ende, unterdrückte so gut es ging jeden Huster, fasziniert von den Stimmungswellen, die Richard Strauss in seine sechs Lieder hineingezaubert hat. Wer einmal die sechs Lieder in der Reihenfolge zufällig vom Computer auswählen ließ, wusste am Donnerstag, was ihm dabei entgangen war.

Richard Strauss, der Opernkomponist, verstand was von Dramaturgie. Jahrelang hatte er Opern komponiert (Salome, Elektra, Rosenkavalier, Ariadne) und das Lied vernachlässigt. Als er sich im Kriegsendejahr 1918 wieder der dramatisch wie friedlichen kleinen Lieblingsform zuwandte, griff er nicht einfach in die Fülle von des „Knaben Wunderhorn“, jener Volksliedsammlung von Brentano selbst und Achim von Arnim, sondern er suchte mühsam aus größeren Brentanowerken die Texte heraus, aus denen er – geschickt anordnend – die Stimmung zaubern konnte, mit der er die Gefühlslage der Menschen der Zeit traf, die froh waren über das Ende des Kriegs, und zitterten vor Angst, ob ihre Männer wieder nach Hause kämen. All die Hoffnung, die Sehnsucht, die Liebe, die Träume, der Schreck, die Furcht – all das klingt auf und schwingt leise in den sechs Liedern, da kann Zwischen-Beifall wie Kanonendonner sein.

In Minden noch hatte Beermann an den Beginn des Konzerts die Walzerfolge aus dem „Rosenkavalier“ gesetzt – auf dass Publikum und Orchester warm würden. Damit die Sopranistin nicht einen Eiszapfenstart hinlegen muss beim blanken Beginn der „Heiligen Nacht“. Dort wie hier hatte Beermann Julia Bauer als Solistin – und Beermann weiß, was er an ihr hat. In Chemnitz ließ er sie ins kalte Wasser springen. Nach Sekt und Plausch und geräuschvollem Sitznachbarbegrüßen und Einzugsklatschen für das Orchester eröffnet ein leiser Ton der Sopranistin den ganzen Konzertabend. Wenn das daneben geht, geht an dem Abend fast nichts mehr. Aber doch nicht bei Julia Bauer. Sie war Beermanns weitere Gewinnoption. Schon mit ihrem ersten Ton hatte sie das Publikum gefangen.

Das Chemnitzer Publikum kennt sie und liebt sie – ob als die Sierva Maria des modernen Eötvös oder als Königin der Nacht.

Auch Beermann mag seine Julia Bauer. Spürbar. Hörbar. Das Orchester trägt die Solistin gleichsam auf zarten Piano-Händen, wenn es in die weniger geliebten Tiefen geht, und feuert sie spielerisch an zu wilden Koloraturen wie im herausragenden fünften Lied, das (passend) „Amor“ betitelt ist. Julia Bauer, die Erwachsene mit dem mädchenhaften Charme, fühlte sich offenbar gut aufgehoben bei Beermann und seinen Philharmonikern. Sie artikulierte den Text aus dem Kopf heraus in die schwierigsten musikalischen Passagen, sang nicht nur, spielte mimisch auch die Flammen, die Klein-Amor mit seinen Flügeln entfacht, und sie sprang ohne Ziehen oder Drücken hinauf auf einsame hohe Töne, hell wie die glänzenden Sterne, die der Mond „wie Blumen pflückt“ und denen er „ein Schlaflied singt“ (3. Lied „Säusle, liebe Myrthe“).  

Morgen und am Ostermontag (zum letzten Mal)  singt und spielt Julia Bauer im Opernhaus die Aminta in der „schweigsamen Frau“ von Richard Strauss – cpo weiß, warum sie die Chemnitzer Produktion in ihr CD-Programm aufgenommen hat („die Kritik jubelte und cpo kann nun der Kette seiner Chemnitz-Edition eine neue Perle hinzufügen“). Den Henry Morosus singt Bernhard Bechtold.

Das war ein weiterer Glücksfall für das Sinfoniekonzert diese Woche. Wegen der Strauss-Oper ist auch Bechtold in Chemnitz. Und so hatte Beermann gleich noch einen weiteren international renommierten Solisten zur Verfügung. Und dessen bedarf es auch bei Mahlers Sinfonie-Kantate oder Kantaten-Sinfonie „Das Lied von der Erde“.

Oft aufgenommen, gleitet der Laser selten zuhause über die CD, zu schwierig ist dieser Mahler, zu diffizil die Tonmeisterei. Das von Mahler ursprünglich als neunte Sinfonie angedachte Werk  (er zuckte dann zurück, weil Beethovens Neunte nicht nur Höhepunkt des künstlerischen Schaffens war, sondern auch ein Ende) entscheidet sich in den beiden Ecksätzen – dem 1. Lied („Das Trinklied vom Jammer der Erde“) und dem 6. („Der Abschied“). Im ersten ein bisschen zu viel Power – und der Tenor geht als „Schreihals“ in die Annalen ein. Im letzten ein bisschen zu wenig, und der Altistin wird brüchiges oder kratziges „Ewig“-Hauchen vorgeworfen.

Desto schöner, dieses Wahnsinnswerk live zu hören – Bechtold in Paradeform, gewiss, gefordert bis zum Äußersten, um über den geballten Orchestermassen zu bestehen ohne zu brüllen, wunderbar bestimmend vor mehr als 90 Orchesterleuten mit seinem warmen, selbst in grellen Höhen nicht schneidenden Tenor. Und unendlich sicher in diesem vor Vorzeichen, Dur- und Mollwechseln nur so strotzenden Werk. Wie er da vom hohen B zum mehr als eine Oktave entfernten As springen muss – Hut ab. Aber wir sind ja nicht im musikwissenschaftlichen Seminar…

Dem Tenor setzt Mahler eine Altistin gegenüber – oder einen Bariton (da gibt es schöne Aufnahmen, von Bernstein, von Rattle, oder von Keilberth mit der Sängersahne von Dietrich Fischer-Dieskau und Fritz Wunderlich). Das funktioniert nicht so richtig. Irgendwie fehlt Spannung, wenn da zwei zu ähnliche Stimmlagen den Kontrast bilden sollen. Beermann tat gut daran, die Partie einer Altistin anzuvertrauen. Und mit Monika Waeckerle hat er die Partie glänzend besetzt. Sie kommt ganz uneigennützig rüber und gestaltet dabei unmerklich mit ihrer in Höhen und Tiefen ausgewogen warmen Stimme scheinbar ruhig die schlimmsten inhaltlichen Dramen.

So sehr die Alt-Partie den halbstündigen „Abschied“ beherrscht (der Schlussteil dauert so lange wie die fünf anderen zusammen), so sehr das „Ewig…, ewig…, ewig…“ ganz am Ende (wie bei Strauss der erste Ton) darüber entscheidet, wie das „Lied von der Erde“ vom Publikum angenommen wird – die Sängerin trägt nur etwa ein Drittel zum letzten Satz bei. Die Hauptaufgabe hat das Orchester – ein großes Orchester, mit allen Schikanen, in dem Mahler am Schluss sogar eine Celesta einsetzt, um die Stimmung zu untermalen, weil ihm wohl das Glockenspiel zu hell gewesen wäre, und die Harfen allein zu zupfig. Nicht umsonst sind die Harry-Potter- Komponisten viel, viel später wieder aus gleichen Gründen auf die Celesta verfallen…

Zu Recht (auch wenn sie manchmal sehr in den Vordergrund traten…) hob Beermann am Ende die Solisten hervor – vor allem die Holzbläser (von der Bassklarinette bis zum Englisch-Horn und der Flöte), die instrumentalen Spiegel der Singstimme, er ließ zu Recht „seine“ Robert-Schumann-Philharmonie beklatschen, die wiederum (vor der großen Oster-Anstrengung mit vier großen Opern) herausragend spielte. Aber auch Konzertmeister Hartmut Schill hatte Recht, als er einmal den Befehl verweigerte, sitzen blieb, und den Beifall allein dem GMD zukommen ließ.

Beermann hatte viel gewagt, und gewonnen. Das Orchester weiß das. Und Beermann weiß, auch wenn er in zwei Jahren Abschied nimmt, viele Orchester kriegt er nicht, mit denen er ein solch schwieriges Programm so gut über die Bühne bringt. (Und ein so dankbares Publikum wie in Chemnitz gibt’s auch nicht überall…)

Die nächsten (und letzten) Aufführungen der von Kritik und Publikum hoch gelobten Chemnitzer Produktion der Strauss-Oper „Die schweigsame Frau„: morgen und am Ostermontag im Opernhaus