Fliegt, Gedanken, segelt…

Der Kandidat also hätte ein rammelvolles Haus erlebt (samt Kulturbürgermeister mit Gattin – schön, hätte er gedacht, wenn das Rathaus seinem Theater die Ehre gibt). Hätte gehört, dass viele Besucher da waren, die nicht so oft Opernluft schnuppern. („Aber Verdi. Und den Gefangenenchor, haben wir doch schon in Verona…”) Hätte sich überlegt, ob „Nabucco” sein muss, der Euphrat an der Chemnitz. Gut, wirtschaftlich wahrscheinlich nicht schlecht, zumal koproduziert mit Erfurt. Besser, weil’s in Chemnitz Sinn hat (obwohl er darüber nichts las): Den „Nabucco” hatte ein gewisser Nicolai vertonen sollen. Aber der mochte nicht. Verdi sollte einen „Proscrito” komponieren. Wollte er wiederum nicht. Libretti getauscht. Alles gut. Nicolai komponierte den „Proscrito” – „Die Heimkehr des Verbannten”: „Die Chemnitzer Oper profiliert sich erneut mit einem Ausgrabungsvolltreffer”, schrieb vor eineinhalb Jahren nach der Premiere der kultiversum.de-Kritiker. Nun also auch das Mailänder Tauschprojekt in Chemnitz in der Inszenierung des verdienten Michael Heinicke. Den Verdi-„Nabucco” braucht keiner ausgraben. Den Gefangenenchor pfeifen sogar die Spatzen von den Dächern. Vielleicht, hätte sich unser Kandidat gedacht, hätte das Publikum mitsingen sollen. War ein bisschen dünn, bei so einer Choroper wie „Nabucco” müsste doch ein Extra-Chor zur Verstärkung möglich sein… Der Kandidat hätte über die Idee geschmunzelt, die Gedanken, die fliegen sollen („Va, pensiero”) als Flugblätter vom Himmel herabsegeln zu lassen, auf dass die hebräischen Sklaven, die hier keine und auch nicht angekettet und auch nicht am Euphrat-Ufer, sondern vor einer Beton?-Mauer waren, auch ablesen konnten, was sie dachten… Kein Beifall nach dem Gefangenenchor, das hätte er zum ersten Mal erlebt, dafür zu Recht Ovationen für den rumänischen Gast, Arona Bogdan, die mollige, kleine Abigaille mit ihrer schlanken, großen Stimme, sicher bei den schwierigsten Passagen und auf dem Tennisschiedsrichter-Thron. Riesenapplaus auch für die Gäste, die fast schon zum Stamm gehören, so nahtlos passen sie in die gute Ensemblefamilie: der – beim ersten Auftritt kam er wie Berlusconi daher -„Nabucco” Heiko Trinsinger (in Chemnitz schon in „Manon Lescaut” – die unser Kandidat von der DVD her kennt -, und in „Tannhäuser” und als „Rigoletto” zu sehen und zu hören), und der „Ismaele” Richard Carlucci (erst neulich der beklatschte Nemorino im „Liebestrank”). Die finnische Fenena Tiina Penttinen aus dem Ensemble hätte ihn beeindruckt, wie sie mit Stimme und Spiel aus sich herausging, wie sie vor lauter Begeisterung den kalten Boden vergaß, als sie – vielleicht gewärmt von Dirigent Domonkos’ langem Handkuss– Vorhang um Vorhang immer noch barfuß genoss (ein bisschen fröstelte es den Kandidaten. Er fand es ziemlich frisch im Opernhaus) und den Finn-landsmann Zaccaria, Kouta Räsänen, den souveränen Hohepriesterbass. Auch Martin Gäbler, Björn Adam und Michalina Bienkiewicz – gut, hätte er sich in seinen grauen Gehirnzellen eine heimliche Notiz gemacht. Der Chor – außer ein bisschen klein – „Hut ab”, hätte der Kandidat gemurmelt, lupenrein sogar in der a-cappella-Passage. Und das Orchester – der Budapester GMD Domonkos Héja (schade, dass der geht, hätte sich der Kandidat gedacht) sorgte für Italienità. Die Robert-Schumann-Philharmoniker(im eiskalten Graben, wie er gehört hätte) können nicht nur „deutsch” wie Pfitzner, die fühlen sich auch im italienischen Liebesgarten eines Verdi wohl, selbst das sonst manchmal gescholtene, diesmal lupenreine Blech und die präzise Pizzikati zupfenden Bässe. Das eine oder andere hätte ich vielleicht anders gemacht, hätte sich unser Kandidat gedacht, aber: das ist eine tolle Truppe hier. Da steckt viel drin. Und da kann man viel rausholen. Vielleicht, nein sicher, sogar noch mehr. Reizvolle Aufgabe, dieses Chemnitz, da hätte ich schon Lust drauf…
Wer nicht.

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