Die Stadthalle war am Donnerstag wieder überdurchschnittlich gut besetzt. Auch das gehört zum Phänomen Felix Bender: musikalisch macht er keine Abstriche, just for show macht er nichts. Aber er weiß auch ganz genau, wie man (zuerst die Musiker und dann mit ihnen) das Publikum gewinnt, Publikumsliebling wird. Das geht selbst mit „russischer“ Musik, die sich wie ein „roter Faden“ (Bender) durch die Spielzeit zog.
Auf Strawinsky, den „größten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts“ (Bender), hatte er die Spielzeit über verzichtet – bis ganz zum Schluss. Als Zugabe der „russischen Galanacht“ ließ er dessen Zirkus-Polka auflegen. Der Russe hatte sie 1942 für das amerikanische Zirkusunternehmen Ringling & Barnum komponiert – 50 Babyelefanten im rosa Tütü sollen dazu getrampeltanzt haben. Ein verrücktes Stück, nicht nur weil Schuberts Militärmarsch dissonant eingebaut ist. Strawinsky – den hätte Bender wahrscheinlich gern mehr im Programm gehabt. Aber Bender weiß natürlich, dass Strawinsky für manche Ohren (noch) zu fremd (modern) klingt. Dann lieber noch Schostakowitsch (Bender dirigierte dessen 10. Sinfonie und das 2. Violinkonzert).
Und vor allem Mussorgsky. Dessen „Nacht auf dem kahlen Berge“ war das erste Stück im ersten Sinfoniekonzert. Seine „Bilder einer Ausstellung“ das letzte (offizielle) im 10. und letzten Sinfoniekonzert. Zwar hat das passende Schulprojekt (zusammen mit den Kunstsammlungen) zu beachtlichen Schülerarbeiten geführt (waren im Foyer zu sehen) und die Terminierung der Ausstellung „Revolutionär! Russisch Avantgarde“ in den Kunstsammlungen sei geradezu „einer Sternstunde“ gleichgekommen, ist im Programmheft zu lesen. Aber, so kommt einem in den Sinn, die „Peredwischniki“-Ausstellung war viel, viel, viel besser besucht. Und Ilja Repin vollendete seine berühmten „Wolgatreidler“ just in dem Jahr, in dem sich Mussorgsky mit den „Bildern einer Ausstellung“ befasste. Auch wenn er da nicht Repin, sondern Viktor Hartmann im Blick hatte. Auch dessen Realismus verstand jeder…
Nun könnte man lang über die „russische“ Musik des „Mächtigen Häufleins“, einer 1862 gegründeten junger Komponistengruppe sinnieren (macht schon Lena Normann gut im Programmheft), oder sich wundern, dass die progressiven Komponisten des Häufleins fast alle aus anderen Berufen kamen. Da fällt einem doch glatt ein, dass auch die „Brücke“-Gründer mit der Kunst-Akademie nichts am Hut hatten, sondern Architekten waren. Vielleicht ist auch in der Kunst der Blick von außen manchmal förderlich…
Vielleicht ist es auch ein Glück, dass Mussorgsky Beamter im Verkehrsministerium war und sich mehr mit der Sanierung verlotterter Straßen als mit der Instrumentierung seiner musikalischen Geniestreiche befassen musste/konnte. Sonst wäre der Klavierzyklus wohl nicht so oft bearbeitet und auf jeden Geschmack hin aufbereitet worden – von der Bearbeitung für Glasharfe bis zu Emerson, Lake and Palmer oder der Stern-Combo Meißen.
Welt berühmt wurden die russischen „Bilder“ durch die Instrumentierung des Franzosen Maurice Ravel. Tschaikowsky, eh westlich orientiert, war fasziniert von des Briten Shakespeare Erzählung der Geschichte des Veroneser Liebespaares „Romeo und Julia“ und fantasierte darüber einer Ouvertüre. Die „Rokoko“-Variationen grüßen Haydn und Mozart. Rimski-Korsakows Konzert für Posaune und (ursprünglich Blas-) Orchester nimmt Hollywood vorweg. Borodin verbindet in seiner „Steppenskizze aus Mittelasien“ ein „Lied der Russen und die Weise der Asiaten … zu einer gemeinsamen Harmonie“ und Strawinsky tönt für einen amerikanischen Zirkus – so eine russische Gala ist schon was ganz Besonderes…
Konzertmeisterin Heidrun Sandmann dankte am Schluss dem Chef für dieses Jahr. Der wiederum dankte dem Orchester. Das wiederum war hellauf begeistert über die eigenen Solisten Falko Munkwitz (Posaune) und Thomas Bruder (Cello). Spürbarer Teamgeist, der zu Höchstleistungen führt. „Was für ein wunderbares Orchester“, entfuhr es meinem Nebenmann schon nach der Tschaikowsky-Ouvertüre spontan.
In der Tat: Das war nicht so ein „Endlich geschafft“-Konzert. Da saßen alle noch mal ganz vorn auf den Stühlen. Ließen sich von Bender mitreißen, der sogar sitzend, akrobatisch fast, das Innigste an Emotion herauslockte und das Strahlendste an Bläserglanz funkeln ließ. Der die ersten Geigen in höchsten Höhen kaum hörbare Töne flirren und Tuba und Kontrabässe Tiefen ausloten ließ. Der die Solisten im Orchester Stars sein ließ für selige Momente (traumhaft Claudia Schönes Englisch-Horn im Borodin Thema, top drauf auch Gudrun Jahn, Flöte, Regine Müller, Klarinette, die Hornisten, die Harfenistinnen, die Schlagzeuger).
Die Posaunisten hat man sonst nicht so im Blick. Wer schaut schon auf die Basis, wenn oben drauf Schönes und Gewaltiges konstruiert ist (wie etwa bei der Elbphilharmonie). Desto erfreulicher, Falko Munkwitz zu erleben. Wenn er nicht gerade die Backen aufblasen musste, immer ein lockeres Lächeln im Gesicht, die ganze Bandbreite der Töne auslotend vom tiefsten, kaum mehr als Ton identifizierbaren Brummeln bis zum feinen Sopraninoklang. Bisweilen fast swingend – Rimski-Korsakow hätte auch in Amerika Karriere gemacht…
Keine Ahnung, wie oft Thomas Bruder seinen Cello-Ex-Kollegen Wilhelm Fitzenhagen beim Üben verflucht hat. Und wie oft er ihm dankbar war. Fitzenhagen war eng dabei, als Tschaikowsky seine Rokoko-Variationen komponierte und hat sie vor 140 Jahren uraufgeführt. Tschaikowsky hat dem Spezialisten dann auch die Bearbeitung überlassen – zuerst murrend, dann aber in vollem Einverständnis. Der Mann wusste, was mit dem Cello möglich ist. Und Thomas Bruder hatte es „auszubaden“. Was er mit Freude und Können auskostete. Die Leichtigkeit des Themas, die vollen Klänge in der Tiefe, die Arpeggien und die atemberaubenden Passagen in den wandernden Daumenlagen, die Töne in hohen Violinlagen ganz oben, fast am Steg, die nach noch so wilden Läufen klingen müssen… o ja, wir verstehen, dass sich Thomas Bruder nach dieser tollen Leistung erstmal den Schweiß abwischen musste, ehe er sich galant bei der Konzertmeisterin bedankte. Und – ein Hoch an den verständigen Cello-Kollegen Jakub Tylman – nicht nur die obligatorischen Blumen, sondern ein neue Kraft schenkendes Fläschchen in die Hand gedrückt kriegte.
Die Robert-Schumann-Philharmonie hat ein grandioses Finale ihrer Sinfonie-Konzert-Reihe gespielt. Der neue GMD Guillermo García Calvo kann sich freuen. Dieses Jahr zwischen zwei offiziell bestellten GMD ließ nichts, aber auch gar nichts an Stagnation spüren, brachte gar einen Schritt vorwärts. Einen großen Anteil daran hat der „Kommissarische“ Felix Bender, der endgültig zum Publikumsliebling avanciert ist. Auch mit Gips – er war der Star des Abends.
Mit seinen Armen kann er alles. Hoffentlich machen auch seine Füße bald wieder mit. Denn dort, wo er gestern seinen Triumph feierte, soll er am 16. September in einer ganz anderen Disziplin Star sein: in der dritten Auflage von „Star Dance Chemnitz“. Das packt er. Jetzt erst recht. Als er sich beim Fahrradunfall die Knochen brach, war er auf dem Weg zu einer Probe eben dieser „Star Danse“-Show…