Faust II: Arbeit? Wohlstand? Schönheit?

„Indessen wogt in grimmigem Schwalle/ des Aufruhrs wachsendes Gewühl…/ Auch auf Parteien, wie sie heißen,/ ist heutzutage kein Verlass;/ sie mögen schelten oder preisen,/gleichgültig wurden Lieb’ und Hass.“ Was gut hat der alte Goethe erkannt, was die Welt und die Menschen umtreibt – damals wie heute.

Die diabolische Lösung kommt – von wem sonst? – von Mephisto: „Wo fehlts Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieser Welt? /Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld,“ konstatiert er, und erfindet das Papiergeld. Es schafft falschen Wohlstand, ohne Arbeit, und die irdische Schönheit löst sich im Nichts auf. Bis dem blinden, 100-jährigen Faust, der nichts mehr von der Erde sieht, die Erlösung naht. Durch die Schönheit der Unschuld, durch Gretchen, das ewig Weibliche, das ihn hinanzieht.

Faust II zu inszenieren ist mehr als ein Kunststück. Goethe selbst hielt ihn für nicht aufführbar. Es dauerte dann auch, nach einer stark gekürzten Uraufführung in Weimar 1875, wirklich bis ins 20. Jahrhundert, ehe die Tragödie halbwegs vollständig auf die Bühne kam. Max Reinhardt, später Gründer der Salzburger Festspiele, ließ 1909/10 beide Teile in Berlin spielen – von zwei Uhr nachmittags bis ein Uhr morgens. Selbst die gekürzte Fassung von Teil 2 dauerte schließlich acht Stunden.

Knochenarbeit für Carsten Knödler und seine Dramaturgin Kathrin Brune. Schließlich kommen sie nach vielen Strichen und Streichdiskussionen – auf eine Spieldauer von drei Stunden (inklusive Pause). Das erste und wichtigste bei jeder Faust II-Inszenierung: Das Wesentliche muss drin sein, die Handlung muss nachvollziehbar sein. Auch für Menschen, die bewusst im Jetzt leben, und die von griechischer Mythologie kaum Ahnung haben. Und bei aller Länge: Das Publikum, faustgequält in der Schule, darf sich, wenn es schon die Möglichkeit hat, das Stück auf der Bühne zu erleben, nicht langweilen. Wenn es angeregt wird, zum Denken zum Beispiel, desto besser.

Knödlers Inszenierung schafft das. Was will Theater mehr?

Carsten Knödler geht das Stück sehr cool an, fast– darf man das sagen? – ein bisschen ehrfürchtig vor der Gewalt des Werks. Er setzt auf Bekanntes aus seiner Inszenierung von Faust I – etwa in den Hauptpersonen Faust (Philipp Otto) und Mephisto (Dirk Glodde), aber auch mit dem Inszenierungsteam – mit Frank Hänig, der mit einer Art Mauer, die in andere oder neue (Unter- und Über-)Welten führt, einen ruhigen Raum schafft, der das Geschehen wirken lässt, nicht das Ambiente; mit Ricarda Knödler, die in den vielen Kostümen für Buntheit sorgt, für Glanz (herrlich „kitschig“ das Paar Helena/Faust), für Authentizität (Krieg, Hof), für das Ahnen fremder mythologischer griechischer Welten, die aber auch Gretchen (wieder Seraina Leuenberger) im weißen Unschuldshemdchen sofort im Bildgedächtnis wiedererstehen lässt. Steffan Claußner bewundern wir immer wieder ob seines Talents, das Geschehen mit Tönen und Geräuschen zu illustrieren. Bisweilen gelingt das großartig (Ballett/Krieg), an ganz wenigen Stellen, wo nur zur Untermalung etwas heftig, wenn Sprache noch hörbar sein soll.

Entscheidend zur Gesamtwirkung trägt bei das Ballett. Sabrina Sadowska schuf sehr eindringliche Bilder – im Kleinen (Zentaur, herrlich), wie im Großen (Walpurgisnacht, Krieg). Ein Gewinn, diese Zusammenarbeit der beiden Sparten.

Weder Mummenschanz noch Walpurgisnacht arten expressiv aus – da werden nicht Orgien oder erotisch-obszöne Hingucker versucht, um das Publikum heiß zu machen und abzulenken von dem, worum es geht. Alles ist nur Spiegel für das, was im Innern abgeht.

Das deckt sich lupenrein mit Carsten Knödlers Intention: sein Kaiser (beherrscht souverän Christine Gabsch) stürzt sich nicht nach dem Motto „arm, aber sexy“ in wüstes Festgetümmel, die Philemon-und-Baucis-Geschichte wird rührend per Video eingespielt, das Papiergeld stiebt keine Funken, und Homunculus ist kein ekliger Reagenzglas-Sprössling, sondern die liebreizend schnoddrig besser wissende Seraina Leuenberger.

Knödler will keine Übertreibungen: er choreografiert das Spiel (Staatsrat!), lässt die Einzelnen frei agieren, wo es angebracht ist (Euphorion). Er lässt Faust, den Getriebenen, den nach immer Mehr Hetzenden, den Momentvernichter (bis er erkennt, o Augenblick, wie bist Du schön) bisweilen ganz ruhig und desto eindringlich wirksamer stehen (und setzt mit der Seele -Marko Bullack – noch eine leise Steigerung daneben, die die Stille desto lauter macht). Knödler vertraut der Wirkung des Geschriebenen von einem Mann, der sein ganzes Leben mit dem Fauststoff gelebt hat. Der skeptisch war dem Papiergeld gegenüber – und seinem Herzog aus der jährlichen Kur in Karlsbad abriet, die französischen Kontributionsforderungen durch das Drucken von Papiergeld zu lösen. Goethe wusste, wovon er sprach. Auch der Dichter des Faust, der in Weimar auch für Wirtschaftsfragen zuständig war, stand mit beiden Beinen auf der Erde. Er erlebte im Heilbad hautnah, wie die österreichischen Banknoten jeden Tag weniger wert wurden. (Der Herzog hörte übrigens auf seinen Ministerdichter).

Knödler übertreibt aber auch den mythologischen Teil nicht. Er weiß, wie sehr Goethe die griechische Kultur schätzte und wie sehr er deren Wirkung auf die deutsche Lebens- und Gesellschaftsart erhoffte. Nicht ungefährlich in Zeiten des Absolutismus, aber zukunftsweisend. Die Griechen sind die Erfinder der Demokratie. Goethe kannte aber auch seinen Winckelmann und war wie der „das Land der Griechen mit der Seele suchend“. In der Architektur und der Kunst (Klassizismus) sollte sich das danach bald auch in Deutschland bemerkbar machen, mit Säulen, Kapitellen, Denkmälern. Nicht nur in Weimar.

Dieser gehetzte Faust im zweiten Teil der Tragödie ist in seiner Gier nach immer mehr Macht, Geld, Erleben, Einfluss, Schönheit ein möglicherweise verzweifelnder, aber echter Unsympath. Philipp Otto spielt ihn so bis hin zu der genial bös gespielten Aufforderung, die alten trauten Philemon und Baucis von seinem Land zu verjagen (ganze Bücher könnte man schreiben über Goethes Kapitalismuskritik und die Bemerkung, als Reicher spürst Du, was Dir fehlt). Dann der Wandel. Der alte Blinde, der Getäuschte, der Hoffende – großartig, Philipp Otto.

Star des Abends ist zweifellos Dirk Glodde als Mephisto. Ja, er ist der Schelm, der (Hof-)Narr. Er ist Verführer und Zauberer. Aber er kommt nie so bös daher wie der Faust, der ihn bisweilen geradezu zwingen muss zu neuen „Abenteuern“. Dieser Mephisto ist ein Kerl, den man ob seiner Vernunft und Klugheit (die Staatsräte sind ja wirklich Politikerpfeifen, nur als Beispiel) fast liebhaben muss. Glodde ist mit Sprache, Mimik und Bewegung den ganzen Abend derart präsent, dass ihm alle Augen und Ohren folgen, wo auch immer er sich auf und am Rand der Bühne allein oder im Trubel bewegt. Glodde hat das Publikum begeistert. Großer Beifall für ihn. Und viel Beifall für das gesamte Ensemble, das Ballett und das Inszenierungsteam.

„Jetzt müssen wir uns beide Teile noch einmal nacheinander anschauen“, hörte ich beim Rausgehen. Gute Idee.

Die nächsten Vorstellungen:

Faust II: 24., 31. Oktober, 8. November, 8. Dezember.

Faust I: 30. Oktober, 7. November, 9. Dezember