Esches Nussknacker beim blauen Elefanten

Chemnitz, Anfang des letzten Jahrhunderts. Auf dem Kaßberg lebt sich wilhelminische Gründerzeit steinern aus. Draußen, wo kein Mensch bisher hinzog, baut Van de Velde den ersten Bau der Moderne für den Strumpffabrikanten Herbert Eugen Esche, den Nonkonformisten, eine Villa, über die alteingessesene Chemnitzer nur spotteten. Aber Chemnitz-Großmacher wie Louis Schönherr, der die besten Webmaschinen für feines Tuch in der ganzen Welt baute, der Möbelstoffweber Hans Vogel, der als erster deutscher Arbeitgeber in die internationale Arbeitsagentur in Genf gewählt wurde und die Chemnitzer Industrie auch sonst international vertrat, oder Gertrud Koerner, die Verwandte geleichermaßen vom weltberühmten Tinten-Beyer und den Esches – sie wussten, dass Esche mit seinen „Gloria“-Strümpfen aus Chemnitz die Frauen in der ganzen Welt verrückt machte, auch die vom Winde verwehten Scarletts, die noch in dicken Strickstrümpfen zu den Bällen tanzen gingen. (Schön beschrieben in den großen Chemnitzern im „Roten Turm“)

Die Weltleute aus Chemnitz zogen Künstler an Edvard Munch etwa und Max Klinger, aber auch (zumindest auf dem Theater) einen Mann wie Ernst von Hesse-Wartegg, den Österreicher, der Konsul Venezuelas in der Schweiz wurde, Reisebeschreibungen aus der ganzen Welt verfasste aus denen sich der Hohenstein-Ernstthaler Karl May reichlich bediente, und Warteggs Gattin, die amerikanische Opernsängerin Minnie Hauck.

Sie alle – wunderbare Idee von Sabrina Sadowska – treffen sich zu Weihnachten bei Esches zum Fest und bilden die fröhliche Gesellschaft, wie sie E.T.A. Hoffmann für sein Bamberg erfunden und der Russe Tschaikowsky in Weltmelodie gesetzt hat, die keinem Ohr fremd ist. Videos aus dem alten Chemnitz führen ins Geschehen ein – für die Damen liegen Feinstrümpfe unter dem Weihnachtsbaum und für die Kinder erzgebirgische Steckenpferde. Ein Globus zeigt alle Weltecken, wo die Esches und ihre Freund Geschäfte machen – aber das schönste Geschenk für Marie (Isabel Domhardt) ist der Nussknacker, mit dem – inzwischen Franz, der geliebte Mensch Jean-Blaise Druenne)  – ihr Traum-Ich (Anna-Maria Maas) durch die Welt tanzt – von Venezuela bis Indien und wieder zurück ins Erzgebirge.

Die beiden tanzen hinreißend den großen Pas de deux am Schluss, aber sie stehen hier stellvertretend für all die großartigen Kolleginnen und Kollegen aus dem Ensemble, die Sabrina Sadowska zu einer Einheit geformt hat, die herausragen, wenn sie ihre Soli tanzen, weil viele alles können, und wieder in perfekter Harmonie dem Ensemble dienen – wie im Blumenwalzer. Miliauskas (Esche), Emily Grieshaber (Johanna Esche-Koerner), die Zuckerfee Sandra Ehrensperger, Pate Drosselmeier (Benjamin Kirkman)  oder Soo-Mi Oh, die bezaubernde Schneekönigin und witzig spielende Chinesin – wen soll man herausheben aus der großen Zahl der Spitzenkönner und der Damen, die „Spitze“ tanzten. (Hier finden sie, wer alles dabei war von diesen begeisternden Ensemblemitgliedern).

Viele Gäste hat Sabrina Sadowska integriert – aus Hamburg und Berlin. Vor allem aber die Eleven aus der eigenen Opernballettschule – die kleinen Mäuse und die Zinnsoldaten, die Kleinsten noch kaum in der Schule. Was für eine Freude zuzuschauen, mit welchem Ernst, aber auch mit welchem Können schon sie sich unter die Profis reihten. Und das war oft gar nicht so leicht. Sabrina Sadowska hat zwar alle Grausamkeit des Krieges zwischen den bösen Mäusen und dem Zinnsoldatenheer verbannt, und die Kanone macht auch nur ein eher leises Blob, aber tanzend gefochten wurde nach allen Regeln der Kunst (da müssen wir doch auch noch den Mäusekönig Yester Mulens-García gesondert erwähnen!).

Die Robert-Schumann-Philharmonie musizierte mit hörbar heller Freude unter Santiago Serrate, von der gestopften Tuba bis zur Celsta für die liebreizende Zuckerfee oder dem großen Orchester zum  Marsch der Zinnsoldaten.

Nun mögen die einen die Nase gerümpft haben über den Pseudo-Jugendstilmix des Bühnenbilds und die Kostüme, die gar nicht van de veldig waren (der Belgier hatte für die Esche-Frau auch die Kostüme entworfen) – lasst doch Charles Cusik Smith und Phil R. Daniels sich in die Welt vor hundert Jahren träumen, so wie unsere Träume auch nicht so immer realistisch sind. Meckert nicht über die Wackler zwischen Kinder- und Jugendchor der Oper und dem Orchester bei der Vocalise. Beckmessert nicht über Grünhainichen und Seiffen! Freut Euch auch an den kleinen Reminiszenzen, das Munch-Porträt von den Kindern, seine Landschaft im Hintergrund in einer bis ins Detail gestylten Aufführung und eine jede Sekunde Spannung und Freude schaffende Choreografie und Inszenierung.

Chemnitz war vor hundert Jahren groß. Bekannt in aller Welt. 2025 könnte es in Europa zumindest wieder so sein. Das Chemnitzer Ballettensemble ist heute schon großartiger Botschafter der Stadt.  Dieser Abend hat wieder gezeigt, was es vermag. Und im Publikum, nicht nur bei den Kleinen, glitzerten auf dem Heimweg noch immer die Augen ob eines wunderschönen, unbeschwerten  Abends in der Vorweihnachtszeit.

Die nächsten Vorstellungen: 5., 14., 18., jeweils 19 Uhr,  22. Dezember, 14 Uhr