„Erinnern heißt vergessen“

Heute, Samstagabend, inszeniert der 21-jährige Nils Braun Donizettis „Don Pasquale“ im Opernhaus. Er hatte das Publikums-Casting im März 2017 gewonnen und wird – anzunehmen – mit leichter Hand die der „Commedia dell Arte“ verwandte Geschichte erzählen (wie’s wirklich gewesen sein wird, können Sie morgen hier nachlesen). Auch Sören Hornung, Jahrgang 1989, ist ein Gewinner. Die Jury des Chemnitzer Theaterpreises für junge Dramatik 2018 hat im Dezember 2017 seine „Sieben Geister“ zum Gewinnerstück gekürt – bei Gott kein Stück für die „leichte Hand“. Ein böses Stück, wer es so will, ein surreales bisweilen für uns ach so bekennende Realisten mit unserem verdrucksten Schweigen dem Gegenüber gegenüber (diese Figur gibt’s kurz im Original-Text). Weil wir nicht nur die (eigene) Weisheit mit Löffeln gefressen, sondern auch unsere Erinnerungen hinuntergewürgt haben wie eine Pfanne voll Kartoffeln (die spielen, in echt, symbolisch eine große Rolle in der Inszenierung. Aber das müssen Sie selbst sehen…), die uns schwer im Magen liegen. Und im Darm.

Nix „Gnothi seauton“ („Erkenne Dich selbst“), wie am Apollo-Tempel zu Delphi als Summum summarum aller Lebensphilosophie steht. Denn wir wissen nicht mehr, „dass all unsere Gedanken und Ängste, auf diesem kleinen Planeten, ein Furz im Raum sind, und dass sie früher oder später, wie alles – vorübergehen.“ Das wiederum steht nicht an einem Tempel, sondern im Textbuch des jungen Sören Hornung. Das ist böse, pessimistisch. Aber könnte auch heilsam sein. Wenn sich Trump und Macron und Merkel und die Europäer darauf besännen. („Sieben Geister“ war der Auftakt zum Festival „Nonstop Europa“). Natürlich wird das nicht geschehen. „Wir sind immer noch einer von vielen Milliarden Menschen die auf diesem Planeten leben, gelebt haben und leben werden. Nur ein Fingerschnips im Lauf der Zeit und wir sind nicht mehr- nur eine verblasste Erinnerung der Kinder unserer Kinder. Denn Erinnern heißt Vergessen.“ (Sören Hornung)

Klingt vielleicht ballaballa. Dass das Publikum den Autoren, die Schauspieler und das Regieteam am Ende nicht endenwollend beklatschte, lag daran, wie sie gemeinsam den Weg zu dieser Premiere gegangen sind, und wie sie dann mit schweißtreibender Kraft und dem einen oder anderen blutigen Kratzer am Schenkel gespielt haben, als wäre das ihr letzter Auftritt. Wie sie am Text gefeilt haben gemeinsam mit dem Dramaturgen René Schmidt, der damals, wie die Regisseurin in der Jury den Daumen hob. Wie sie dieses riesige Podest der Selbstgerechtigkeit in die Hälfte der Spielstätte hineingerammelt haben, aus dem Platte für Platte zerstörerisch verschwindet, bis schließlich die ganze Selbstherrlichkeit im Gefängnis und im Dreck der Erdenwürmer vergammelt. (Bühne und Kostüme: Valentin Baumeister). Wie sie vom „guten Kameraden“ nahtlos ins klassisch Requiem getaumelt sind und wieder zurück zum „guten Kameraden“ im irren Tanz der lebenden Toten. (Musik: Justus Wilcken).

Das dramatische Treffen von Sohn und Tochter, Mann und Enkelin nach dem Tod der Frau, Mutter und Großmutter dreht sich um die Erkenntnis von Wahrheit und Trug, Vorgaukelei und unglücklicher Haltlosigkeit und erinnert entfernt an die Geschichte jener dummen Geißlein im Märchen (im Text auch „Geistlein“). Nur gab’s dort nur einen Wolf…

Machen Sie sich keinen Kopf wegen der sieben Geister. Der Titel spielt nicht wirklich eine Rolle. Vielleicht ist er entschwunden ins Nirwana auf dem Weg zur Uraufführung.

Die Rollen spielen die unglaublich präzise gestalteten Figuren des alten Wolfgang (Horst Damm), deppert zwar, aber noch mit Resten von Gefühl. Er hat noch Empfindungen, kann noch streicheln. Aber er ist auch gefangen im Circulus vitiosus seines Kriegsspiels zwischen Nazis, Yankees und Russen. Er kann sich ins Mottenkugelmonsterleinen seiner bösen toten Ursula kleiden und mit der Erkenntnis-Erinnerungskartoffel dastehen wie das Denkmal Friedrichs des Großen: Das war der mit dem Kartoffelbefehl, auf dessen Grabmal selbst Kartoffel dereinst liegen sollten. Oder wie die Freiheitsstatue: Nur macht hier Erinnerung frei…

Wie eine männliche Pietà hält er schließlich die seelenverwundete Tochter Elise. Ulrike Euen spielt dieses arme Geschöpf, dem Liebe zur Mutter wahrscheinlich früh ausgeprügelt worden war, die Liebe des Bruders aber zu eng geworden ist… Die Mutter, nach dem Krieg ums Überleben kämpfend, hat sich nach Liebe gesehnt, ein Leben lang. Aber nur Diabetes bekommen. Ist die Treppe hinuntergestürzt, weil Krankheit mit Zuwendung belohnt werden könnte. Und Elise-Elli hats dann auch versucht. Aber wer zu spät kommt, den bestraft der Gram.

Die Enkelin Franziska (Magda Decker) ist aus diesem Tollhaus der kommunikationslos still gewordenen Familie längst in Drogen geflüchtet – mit immer noch schmerzenden Hakenkreuz-Ritzen im Schenkel und Ahnungen von russischen Vergewaltigersoldaten. Ihr verzweifelter Monolog ist einer der Höhepunkte des Abends. Sie riecht, dass es stinkt in der Wirklichkeit, aber sie ist eigentlich schon nicht mehr von hier. Jetzt ist es ihr auch schon egal, dass der Vater bei der Stasi war. Das Geständnis kommt zu spät.

Christian Ruth wankt vom Filmemacher-Angeber in Unterhosen zum bitter verkennenden Grenzzaunmörder, der sogar vergessen hat, wie dieses Mädchen hieß, das er feige in den Tod geschickt und systemhörig aus seiner Erinnerung verbannt hat.  Aber seine Erinnerung und das Teilen seiner Lebenserfahrung kommen zu spät. Seine Beichte führt nicht zur Verzeihung. Die Tochter ist kein Pfarrer im Beichtstuhl. Sie spricht nicht frei. Der Sünder ist ihr schnurz.

Drei Tage vor der Premiere wurde Christine Gabsch krank. Ihr war die Rolle der Erzählerin zugedacht. Sie hätte quasi aus dem Off (von oben, oder „falsche Adresse“ von unten – großartig Christian Ruth!) das Geschehen kommentieren können, an die Frau, Mutter und Großmutter virtuell erinnernd. Das steckt im Stück, und das haben sich Autor und Regisseurin wohl auch so vorgestellt. Eingesprungen (ganz großes Kompliment!) ist die junge Maria Schubert – ein unschuldiges Wesen, ein wissender Engel, aber mit unvermeidbarem Erden-Dreck an den Barfüßen. Sie treibt leise die Handlung voran wie die Sängerin im Rezitativ einer Oper, sie mischt sich ein mahnend wie der Chor in einer griechischen Tragödie. Aber Maria Schubert ist jung. Hat gar nichts von einer lebenserfahrenen Großmutter. „Ich bin nicht Deine Großmutter“, wehrt die Erzählerin die Anrede von Franziska ab. Werkimmanent logisch bei einer Christine Gabsch, mit einer ganz anderen, zeitlosen Dimension von Gültigkeit Maria Schubert: Erinnern heißt nie Vergessen. Und Verdrängen ist nie eine Lösung zwischenmenschlicher oder politischer Probleme.

Starkes Stück. Preiswürdige Inszenierung. Laura Linnenbaum hat in Chemnitz schon einmal gezeigt, wie gut sie mit Erinnerung und Vergessen umgehen kann. Damals bei „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“. Guter Auftakt für das Nonstop-Festival Europa. Nächste Aufführung morgen, Sonntag, 20 Uhr, Ostflügel. Dafür und für die weiteren Aufführungen gibt’s noch Karten.