Einen Bach zum Erholen

Üblicherweise geht das Chemnitzer Konzertpublikum in der Pause lässig mit den eben erlebten „Experimenten“ um und über zum Sekt oder Saft. Muss wohl so sein, dass ein Orchester auch „diese Modernen“ spielt. Ok, abgehakt. Doch am Donnerstag redeten die Leute darüber, was sie gerade erlebt hatten. Engagiert. Am Neben-Stehtisch kriegten sie sich fast (freundschaftlich natürlich) in die Wolle. Dieser Dutilleux spaltete – „herrlich“ schwärmten die einen, „vergessen“ forderten die anderen. Diesen Duti…Was? Wer bei der (wie immer) eloquent kenntnisreichen Einführung von Musikdramaturg Jón Philipp von Linden dabei war, setzte zur Korrektur an: Dütijöh. Half auch nichts…

Nur in einem waren sich alle einig: Dieser Wolfgang Emanuel Schmidt hatte „super gespielt“. Der Badener, Jahrgang 1971, und nicht SC Freiburg- oder KSC-, sondern Bayern-Fan, und vierfacher Vater, weiß genau, wie Kinder, Publikum/Fans und (Musiker-)Kollegen ticken. Und wie man sie packt. Und so packte er auf den Aufrüttel-Franzosen, der dieses Jahr 100 geworden wäre (er starb 2013), einen beruhigenden Johann Sebastian (1685 – 1750). „Nach diesem auch für Sie, liebes Publikum, etwas fordernden Stück“ führte er die Zugabe ein. Die C-Dur-Sarabande als Erholung für die Sinne. Und wer sagt’s, der Wahrheit halber muss es festgestellt werden: Für den Bach gab’s herzlicheren Applaus als für den Franzosen.

Schmidt, weltweit gefeierter Solist und Cello-Prof. in Weimar, hatte sich selbst etwas fordern lassen. Und die Noten studiert (wie übt man eigentlich so ein Wahnsinns-Werk – allein, im Keller?), da war hier was an die Seite, dort oben ein paar andere Notenzeilen rangeklebt, dass er nicht an den unmöglichsten Stellen (sind eh alle) blättern muss. So leicht hätte er das Publikum zum Applaus im Stehen bringen können. Wie kürzlich in Lviv/Lemberg. Da dirigierte (!) er Schumanns 4., Mendelssohns „Hebriden-Ouvertüre“ und Brahms‘ Haydn-Variationen. Und dann spiele ich noch einen kleinen Haydn (C), fügte er in einem sozialen Netzwerk sinngemäß augenzwinkernd hinzu. Da setzte er sich also hin und spielte mit links vor der großen Aufgabe der Schumann-Sinfonie das ebenso wunderschöne wie wunderschwere C-Dur-Konzert von Haydn – und dirigierte gleichzeitig das Orchester.

Nun also Dutilleux in Chemnitz. Das Cello-Konzert „Tout un monde lointain – eine ganze Welt, weit entfernt“, an dem der Komponist fast ein Jahrzehnt gebosselt hat, bis es der Cello-Titan Mstislav Rostropowitsch 1970 uraufführen durfte. Das spielt man nicht einfach so. Da braucht es einen Solisten, der einen seiner besten Tage erwischen muss, ein Orchester, das einem, auch wenn man berühmt ist, für ein solches Werk gar nicht oder höchst ungern zur Verfügung gestellt wird (kostet viel Probenzeit und bringt nicht mehr Zuhörer an die Ticket-Schalter). Und man braucht einen Dirigenten, der ein hochmusikalischer Mann (könnte natürlich auch eine Frau sein) sein muss, wie Thomas Zehetmair, den zehn Jahre älteren Salzburger.

Dass da etwas ganz Besonderes abging, das spürten die Chemnitzer, auch die, die dem Stück zunächst nichts abgewinnen konnten. Da ist der Solist, fängt wunderschön an und dann brabbeln die Töne nach unten. Wie wenn Du ein Taschentuch rausziehst, um am Bahnsteig deinen Liebsten nachzuwinken. Und es fällt dir aus den Fingern segelt nach unten. Aufheben, noch einmal, und noch einmal fällt es aus der Hand. Doch dann hast du es, winkst – und dir schießt durch den Kopf Bild um Bild von Schönem, das ihr erlebt habt, und von dem Bösen… Fleurs du mal (Blumen/Blüten des Bösen) heißt die Gedichtsammlung von Baudelaire, deren Stimmung Dutilleux in Töne übertragen hat. Der Solist arbeitet wie ein Berserker, um schöne Leichtigkeit vorzuspiegeln, von den tiefsten Tiefen bis in die höchsten Höhen, Geigentöne, weit übers Griffbrett hinaus in Kolophonium-Höhe. Kaskaden von schnellen Läufen, Flageolet-Doppelgriffe, Wildheit im Strich bis zum kaum mehr vernehmbaren Aushauchen zum Schlusston.

Die Cello-Kollegen wussten genau, was der Solist da geleistet hatte. Und Wolfgang Emanuel Schmidt freute sich sichtbar über das Beifalls-Lob der fachkundigen Kollegen. Und war auch sichtlich angetan von der Robert-Schumann-Philharmonie. Von ihrer Fähigkeit, ihm zu helfen, Klangbilder zu zaubern, Regen tropfen zu lassen auf Metallblättchen, mit dem Schlagzeugbesen Träume durch die Blätter rauschen zu lassen (Dutilleux hat auch ein Stück geschrieben: L’arbre des songes – Der Baum der Träume), Sonnenblitzer aufscheinen zu lassen im Holz, von Flöten und Oboen, stechende Kälte aus der Harfe, wohlige Wärme aus der Celesta, flirrende Atmosphäre aus den nochmals geteilten Streichern mit wilden Fingern, Dämpfern und lockerer Bogenhand.  Puh. Solch (halb-)impressionistische Kompositions- und Instrumentierungskunst ist wirklich ein bisschen fordernd – kaum weiß der der Zuhörer, wo er hinsehen soll, von wo er welchen Klang verorten kann. So an Stück einzustudieren, kurz vor der Meistersinger-Premiere, Hut ab vor den großartigen Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie.

Und Hut ab vor diesem Dirigenten, für den Dutilleux erst recht kein Honigschlecken ist. Er ist Weltklasse mit der Geige, die Schallplattenfirmen lieben Thomas Zehetmair, weil er immer Garant für Referenzaufnahmen ist. Er spielt alles – von Paganini bis zu Uraufführungen von Dillon, Veerhoff oder von Böse. Und dirigieren kann er auch. Macht er seit 20 Jahren. Da steht nicht einer am Pult, dessen Finger nicht mehr so laufen. Zehetmair beherrscht in seiner genialen Musikalität auch jedes Cluster bei Dutilleux und jede Strukturschichtung bei Beethoven oder Dvořák (6. Sinfonie). Er muss sich nicht verrenken, um Effekte rauszukitzeln. Die Hörner kommen bei Beethovens Egmont-Ouvertüre astrein. Und die Streicher der Robert-Schumann-Philharmonie lassen die irren Läufe in der Stretta bei Beethoven wie bei Dvořák spielerisch in Schlüsse münden, die ungetrübt glänzen.

Aber das hat Zehetmair von den Kollegen der streichenden Zunft in Chemnitz eh erwartet. Er weiß, was sie können. Und ist dankbar dafür, dass er hier in Sachsen die Möglichkeit hat, auch „Unmögliches“ zu dirigieren. Aber er weiß auch, bei wem er sich besonders bedanken will: bei den Bläsern, Holz wie Blech, und bei den Schlagzeugern. Prasselnder Jubel beim Publikum.

Die Theater hatten in der Vorankündigung dem Konzert ein politisches Mäntelchen umgehängt. Die Revolution bei Egmont, die Antipathie der Wiener gegen den Tschechen-Komponisten… Wirklich politisch, und echt revolutionär war das Programm in seiner Dramaturgie: einem Dutilleux mitten in einem „normalen“ Sinfoniekonzert diesen Stellenwert zu verleihen – anderswo würde das zur Revolution führen. Mit schlagenden Türen und Gemurre.

Das Chemnitzer Publikum liebt Dutilleux nicht unbedingt. Aber es weiß, dass dieses Konzert etwas Besonders war. Es wird ihn nicht vergessen. Spannend. „Interessant“ allemal, sagte einer beim Rausgehen. Jetzt würde ich mir den Dutilleux sogar noch einmal anhören…