Ein Rausch von Klang und Farbe

Faccio und sein Librettist Arrigo Boito, selbst Komponist („Mefistofele“) und Librettist auch für Verdi („Otello“) und Ponchielli („La Gioconda“), hatten im Übermut ihrer jungen 20 Jahre die Opernwelt aus den Angeln heben und etwas ganz Neues schaffen wollen. Letzteres ist ihnen gelungen. Ersteres scheiterte schlichtweg daran, dass der kranke Tenor an der Scala kaum einen Ton rausbrachte und Hamlet vom Publikum längst totgepfiffen war, ehe er sein Figurenleben wie Geliebte, Mutter und Onkel aushauchen konnte.

Hätten sie doch nur einen Gustavo Peña gehabt, den „Hamlet“ aus Las Palmas, der in Chemnitz einen wunderschönen klaren Ton bot – in Rachegelüsten, Irrsinn und Trauer gleichermaßen. Wer weiß, vielleicht hätte Faccio Verdi und Puccini, die er später oft dirigierte, überholt. Es sollte nicht sein. Er hat sie mit „Amleto“ immerhin eingeholt.

Die Titelrolle ist mit gesangtechnischen Schwierigkeiten nur so gespickt – das verursacht vielleicht die eine oder andere Härte in den Höhen. Aber der junge Peña, als einziger Mann der Erwartung deutscher Bildungsbürger entsprechend schmucklos in Schwarz gekleidet (ja, es gibt auch eine Szene mit einem Totenkopf, und die Geliebte, Ophelia, trägt kontrastierend ein schlichtes, jungfräuliches Weiß) ist präsent, vom ersten Ton an. Sein „Essere, o non essere“ („To be or not to be“) zeigt seine individuelle Wandlungsfähigkeit, aber er kann sich auch einzuordnen, wie in dem herrlichen Terzett mit der Mutter (Katerina Hebelkova) und dem Geist des Vaters (Noé Colín), einem der schönsten Stücke der Oper.

Davon gibt es viele, aber kein einziges ist so ohrwurmig wie Verdis Melodien. Wenn Verdi ein Trinklied komponiert etwa für die „Traviata“, dann lässt er fünfe grade sein, und pure Lebenslust schwappt musikalisch in den Champagnerkelchen und über die Rampe, wie finster auch das Schicksal schon dräut. Ausgesungener oder gespielter Wohlklang aus dem Graben, das scheint Faccio zu fürchten – so ist das Leben nicht. So verdüstert das Trinklied hier ein Totengedenken, der König schmeißt sein (das hätte Puccini auch nicht besser gekonnt) gerade mal im Ansatz ehrlich gemeintes „Vater unser“ weg in den harschen Musik-Orkus der königlichen Alltagsmacht (großartig und eine Glanzleistung dieses Abends: Pierre-Yves Pruvot), die Celli mögen sich mit der Solo-Violine ein noch so schönes Lied erträumen – Blech und/oder Chor hauen rein wie der Blitz in einen wunderschönen Sommersonnentag.

Faccio hat alles hineinkomponiert in seine Oper, was wir von einem italienischen Musikdrama der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwarten: gewaltige Chöre (große Leistung des von Stefan Bilz hervorragend präparierten Chemnitzer Opernchores) und zu Tränen rührende Solostellen (Tod der Ophelia – eines der stärksten Bilder im Stück und eine wunderbare Tatiana Larina), es erklingen fröhlich Walzer und andächtig Gebet, die Oboen- und Flöten-Vögel pfeifen fröhlich die Natur und Tuttis bäumen sich in einer Stretta dem drohenden Ende entgegen. Manch Vorspiel ist so zart, dass es zum Nachmittagstee erklingen könnte, dann wieder so spannend, dass es auch für sich in jedem Klassiksampler reüssieren könnte.

Gerrit Prießnitz, in dieser Spielzeit 1. Ständiger Gastdirigent in Chemnitz, weiß, mit den Kontrasten umzugehen, legt mitunter den Taktstock zur Seite, um noch mehr Intensität aus kammermusikalischer Stille herauszukitzeln, greift dann mit weit ausholenden Bewegungen ins Volle, um riesige Klanggemälde aus Solisten, Chor und Orchester grellfarbig zu malen und sie doch so zu gestalten, dass sie den Rahmen nicht sprengen. Die Robert-Schumann-Philharmonie folgt ihm, lässt Italienità anklingen, aber badet nicht darin.  

Faccio, wie Boito, kannten nicht nur Verdi und Puccini, sie wussten auch, was Wagner treibt. Aber eine Oper durchzukomponieren, das trauten sie sich wohl doch noch nicht. Schöne Konsequenz: Sängerinnen und Sänger wurden auch mit Arien bedacht, für die sie des Beifalls sicher sein konnten. Der war in Chemnitz höchst verdient. Nicht nur für Hamlet (Peña) und Claudius (Pruvot), sondern auch für die Frauen – die reizende Ophelia mit ihrer schlanken, beweglichen Stimme (Larina) und, zu Recht mit besonders viel Beifall bedacht, die Königin (Katerina Hebelkova) mit ihrem leicht dunkel mütterlich gefärbten Sopran. Die anderen Sänger aus der langen Besetzungsliste nicht zu vergessen. Große Leistung der gesamten Solistenriege.

Hamlet – für jeden Ex-Gymnasiasten harte, kaum kapierbare Kost – war in Italien, dem Land ohne nordischen oder Insel-Trübsinn, lange Zeit gar nicht zu verdauen. Es gab sogar Versuche, happy endings zu konstruieren. Boito und Faccio kam das nicht in den Sinn. Sie kürzten, konzentrierten, wahrten den Sinn. Aber niemand, und das macht die Oper für ganze Familien attraktiv, muss mit Hamlet in die Tiefen menschlicher Existenz hineinphilosophieren oder sich mit der Ästhetik des Theaters beschäftigen. Wer will, kann darin auch einen spannenden historischen Krimi sehen.

Das ist auch das Verdienst des Regisseurs Olivier Tambosi und seines Teams. Tambosi, international renommiert, schickte nach Chemnitz nicht einen Assistenten, um seine Bregenzer Arbeit einzurichten, sondern war selbst vor Ort. Täglich. Vom Probenanfang an. Er feilte an jedem Detail (welch schauspielerische Talente deckte er in den Sängerinnen und Sängern trotz schwierigster Passagen auf – großartig etwa die Hebelkova bei ihrer Reuearie auf dem Bett), es gelang ihm auch der große Wurf. Und der Blick er Zuschauer folgte gebannt dem unablässig bewegten Geschehen auf der Bühne, die Obertitel glatt vergessend.

Selten sahen wir eine so konsequente Führung des gesamten Chores, singend – oder nur stumm das Geschehen kommentierend. Was für eindrucksvolle Bilder, wenn die Tänzerinnen (Charlotte Petersen, auch an der Choreografie beteiligt, Yael Fischer und Florine Fournier) vor dem wie in Zeitlupe ersterbenden Chor ekstatisch Gedanken und Atmosphäre tanzten. Oder wenn aus dem „Theater“ (vorn und hinten lampenbirnenumrahmte Bühnenportale mit roten Vorhängen) bittere, blendenhell bedrohliche Wirklichkeit wird und der Geist des Vaters aus dänischem Inselmeer in die Realität einschlägt (am Rande: großer, mächtiger, exzellent verstärkter Bass: Noé Colín) – ein Komtur aus dem Norden (Bühne: Frank Philipp Schlößmann).

Er will Rache. Und vor seinem unerbittlichen Blick, der sich als Auge sogar in die Kostüme hineinfrisst, kommt niemand aus der verlogen verlotterten Hofgesellschaft davon, mag sie sich im (Boden)spiegel noch so wenig sehen wollen, die eigene Schuld erst recht nicht. Ein Stück schwarzer Hamlet in jedem, ein Stück rote Anmaßung wie aus Königspurpur – alles Schein zwischen Harlekin und Hof, die prächtigen, mehrfach gewechselten Gewänder mit den Renaissance-Halskrausen, die aussehen wie folternde Halsgeigen. Schuldig Gesprochene, Tanz auf dem Vulkan. (Gesine Völlm hat die prachtvollen Kostüme entworfen, die in Chemnitz angepasst wurden).

Nur wer sich vor der Wahrheit nicht verschließt, bleibt frei vom stechenden Auge des Rächerkönigs: Hamlet, Ophelia und die die Falle stellenden Schauspieler. Die Hauptfiguren kommen, wie meist bei Shakespeare, aber auch nicht davon: die Schuldigen werden bestraft, die Unschuldigen kommen in ihrer Tragik um. Und das Publikum geht geläutert aus dem Theater, zumindest, wenn Lessing mit seiner Dramaturgie recht hat.

Das Chemnitzer Publikum war begeistert und beklatschte Darsteller, Orchester, den Dirigenten und das Leitungsteam, bis der Vorhang dem Beifall ein Ende erzwang.

Faccios und Boitos „Hamlet“ – eine interessante Wiederentdeckung. Bregenz brachte es auf drei Aufführungen. In Chemnitz werden es mehr. Und es würde uns nicht wundern, würden sich nach dieser Premiere auch andere Bühnen an dieses Opernspektakel wagen.

Die nächsten Vorstellungen: 8. Dezember 2018, 18. Januar 2019