Ein paar Edelsteine

Da verzichtet man gern auf Mainstream-Renner wie Orffs „Fortuna“ oder Händels „Hallelujah“, die am Samstag bei „Classics unter Sternen“ auf dem Opernplatz in den Regen hinausgeballert wurden, um die frierendnassen Zuhörer aufzuheizen. Immerhin seien es 3.500 gewesen, wie die Veranstalter mitteilten. Am Montag vor dem Opernhaus kündeten noch Dutzende von trostlosen Euro-Paletten von dem Event. Zum backstage-Konzert kamen vielleicht 50 Zuhörer – sie wollten lieber Edelsteine als Modeschmuck.

Nichts gegen musikalische Großevents mit der Vogtland-Philharmonie auf dem Opernplatz oder David Garret auf der Waldbühne. Alles gut. Aber eine Wirkung über Chemnitz und Sachsen hinaus entfalten solche kleinen, feinen, progressiven Experimente wie am Montag auf der Opernhausbühne. Gut, dass man in der Stadt der Moderne Moderne auch erleben kann. Schade, dass Luca Lombardi nicht kommen konnte. Wie etwa Eötvös und Rasch hätte er erkannt, welch Potenzial für zeitgenössische Musik in Chemnitz schlummert.

Hindemith, Reger – Gott, wie klangen die damals vor Jahrzehnten schräg. Sie kamen nach Chemnitz, weil man dort mit einer Industrie auf Weltmarktniveau einen Riecher hatte, für das, was „state of the art“ ist. Nicht nur in der Musik. Andere beölten sich noch über (schöne, teure) Romantiker, da himmelten die Chemnitzer Karl Schmidt-Rottluff, Heckel, Pechstein & Co. an.

Zeitgenössische Musik ist nicht jedermanns Sache. Waren die Beatles auch nicht, oder die Stones, damals in den 60ern. Und Fellinis Film „8 ½“ (1963) wurde dereinst wütend geschmäht, heute ist er Kult. Mag sein, dass Fellini Pate stand, als die Konzertmacher in Chemnitz dem Konzert den Titel „69,5“ gaben. Das Mysterium löste Jón Philipp von Linden, der den Abend moderierte, schnell auf: Luca Lombardi werde erst um Weihnachten herum 70. Und vorher gratulieren, das gehe ja nicht…

Thomas Bruder, dem Solo-Cellisten der Robert-Schumann-Philharmonie ist es zu verdanken, dass das ensemble01 und seine Freunde von der Philharmonie dem Komponisten mit dem musikalischen Portrait ein frühes Geburtstagsgeschenk machten. Er hatte im Radio ein Stück von Lombardi gehört, und war hin und weg. „Das müssen wir auch machen“, nahm er sich vor.

Nun ist Thomas Bruder nicht nur ein professioneller Cellist, sondern auch ein Profi-Hörer. Für normalsterbliche Ohren ist Lombardis Musik aus dem Lautsprecher wahrscheinlich der ultimative Kick zum Drücken auf den Power-out-Knopf. Aber genau das passiert nicht, wenn man die Musik quasi hautnah erlebt – auf der Drehbühne von Spielort zu Spielort gefahren, die Wände in farbige Lichtfacetten getaucht, als bräche das Licht durch einen wunderbar geschliffenen Edelstein.

Das ist das Stichwort: wunderbar geschliffen. Wir lassen ausnahmsweise alles weg, was sich Lombardi beim Komponieren gedacht hat oder haben könnte. Darüber hat Jón Philipp von Linden für die Besucher moderierend einsichtbare Bilder geschaffen. Und für alle anderen ein vorzügliches Programmheft geschrieben (von dem es für Interessenten sicher noch ein paar gibt).

Der Schliff hat uns fasziniert. Wie Lombardi mit den Instrumenten umgeht. Wie Sabine Bruder der Bassflöte Töne entlockt, die Thomas Bruder hoch oben auf dem Cello aufnimmt, dass man kaum spürt, wo genau der eine in den anderen Ton übergeht („Einstein-Dialog“). Gleich vier Flöten (bis hinauf zur Piccolo) hatte Lombardi vorschrieben – mit einer einzigen kam Ulrike Rusetzky in ihrem Solo „Nel vento, con Ariel“ aus (und später Sabine Bruder bei ihrem großartigen Solo in „Infra“). Dafür verlangt Lombardi dann gehauchte, nicht geblasene Sechzehntelläufe, Geräusche, wie sie nie mehr vorkommen dürfen, seit der Flötenlehrer wegen angeblich schlechten Ansatzes in den kindlichen Übungsstunden Wut bekam. „Ich hab mehr geübt als sonst“, bekannte die Solistin…

Lombardi lässt den Cellisten unmittelbar auf dem Steg streichen, verlangt von der Geige (Andreas Winkler) irrsinnige Sprünge nach ganz oben zwischen Griffbrett und Steg, nur um zu zwitschern. Bratsche (Ulla Walenta) und zweite Geige (Ruth Petrovitsch) müssen, ehe sie reinkrachen dürfen, gefühlte Minuten einen Dauerton gestalten, während die anderen weiß ich nicht wo irrlichtern – und in rhythmisch harschen Verrenkungen unmerklich zur perfekten Parallelität finden. Ganz unten entfachen vor dem Flügel (Stefan Politzka, der nicht nur Tasten spielen darf, sondern auch an die Saiten muss) Kontrafagott (Philipp Löschau), Bassklarinette (Ralf Pettke), Alexander Pansa (Horn), Falko Munkwitz (Posaune) Edgar Schilling mit seiner Tuba und Holger Schultchen (Kontrabass) infernalisches Tiefstgedröhn („Infra“ heißt das Stück – lat. Infra = drunter, tief drunten), aus dem sich das Cello (Thomas Bruder) bisweilen in höchste Höhen schwingen will, während die Schlagzeuger André Schieferdecker und Jens Gagelmann wirbeln wie Fegefeurer, um dann (Gagelmann) mit dem Knöchel (nicht mit dem Hammer) an der Glocke Himmelslicht zu verkünden. Und Tom Bitterlich sorgt in diesem durchdachten Pseudochaos scheinbar ungerührt dafür, dass Sabine Bruder (Flöte, ganz links) und Andreas Winkler (Geige, ganz rechts) einstimmig über der brodelnden Tiefe diskantieren. Was für ein Wahnsinnsstück. Da kriegt man schon vom Schauen fast zu viel, wenn man nur erkennen will, wer gerade welchen eigenartig fremden Ton erzeugt.

Lombardi hat einige Opern geschrieben, darunter „Prospero“, die wiederum in diesem Konzert eine Rolle spielte (weil er Teile, z.B. den Dialog, dafür verwendet hat). Es fiel schwer, zu glauben, dass solcher Art Musik auch gesungen werden kann. Kann sie. Und wie wunderbar. Wenn Franziska Krötenheerdt in fast flüsternden Alt-Regionen zum “Lied” (Text: Else Lasker-Schüler) ansetzt, und dann im hohen Sopran alles Leid der Welt zu überwinden versucht, dann schillern nicht nur Vokale, dann werden gesungene Konsonanten lebendig wie all die Glissandi, Pizzikati und Sordini in den Instrumenten.

Der reiche Beifall galt nicht nur dem Aufgeführten. Die Zuhörer, darunter auch der Generalintendant und einige Kollegen der Musiker, sind froh, dass es so was gibt in Chemnitz: Musiker, die sich reinknien in die Moderne. Wenn Du nicht mitkriegst, was heute aktuell ist, bleibst Du gestrig, rennst Du morgen hinterher…