Ein junger Pianist räumt ab

Aaron Pilsan, engagiert für das 3. Klavierkonzert von Beethoven, hat als Zugabe über Mozarts „Türkischen Marsch“ improvisiert. Keine Ahnung, ob er das selbst komponiert hat. Egal. Das „Wie“ riss die Hörer vom Hocker und ließ niemanden im Orchester ungerührt. Pilsan jazzte, rockte – und spielte einen Original-Mozart zum Niederknien. Er zauberte traumhafte Übergänge, knallte mit der linken Hand groovig die Bass-Rhythmen und landete mit der rechten leicht und weich im Mozart-Bett. Er brillierte virtuos über die Tasten wie für einen Liszt oder Rachmaninow und streichelte das Flügel-Elfenbein wie für die kleine Nachtmusik. So erfindungsreich, mit so viel musikalischen Gags, mit solch musikalischem Witz – das war große Klasse.

Das konzerterfahrene Chemnitzer Publikum weiß, wann man in mitteleuropäischen Breitengraden klatschen darf, und wann nicht, wenn man nicht als Banause gelten will. In früheren Zeiten hätte Pilsan schon vorher Beifall auf offener Szene bekommen: für die Kadenz des ersten Satzes im Beethoven-Konzert. Sie war die Krönung des Konzerts – Pilsan ist keiner, der in die Tasten haut, dass man meint, der Flügel bricht zusammen. Aber er demonstriert Kraft auf der einen, Leichtigkeit auf der anderen Seite, ohne dass die Gegensätze peinlich werden im Suchen nach dem extremen Effekt. Das passt alles – jeder Ton ist zu hören, keine Sekunde zu viel Pedal, und die Motive erschließen sich wie von selbst.

Gut, dass der Flügel so nah beim Orchester stand. Pilsan hörte hinein in seine Mit- und Gegenspieler im Orchester, gab den Duktus vor, die Phrasierung – drehte den Kopf zu ihnen, und selbst sein Taschentuch, mit dem er sich die Hände gewischt hatte, landete im Rhythmus auf der Ablage. Dieser junge Mann ist so was von musikalisch – und Hartmut Schill, der Konzertmeister, der direkt neben dem Pianisten saß, atmete mit, und seine Kolleginnen und Kollegen folgten unauffällig. Die Profis der Robert-Schumann-Philharmonie können das. Gerrit Prießnitz hatte zwar für den Beethoven den Taktstock beiseitegelegt und dirigierte mit bloßen Händen – so wie Chordirigenten ihre Sängerinnen und Sänger einzufangen wissen. Aber selbst im zweiten, eher liedhaften Satz, bestimmte Pilsan Pace und Stimmung, wohl wissend, dass er das Orchester auf seiner Seite hatte.

Gerrit Prießnitz war für den erkrankten Michael Güttler eingesprungen (Güttler steht auf der GMD-Kandidatenliste.* Gedulden wir uns eben bis „Pique dame“). Das ehrt Prießnitz. Für die „Leonore 3-Ouvertüre“ hatte man ihm das Orchester in großer Besetzung zur Verfügung gestellt. Also deutlich mehr Musiker, als bei „Fidelio“ im Graben sitzen oder beim Klavierkonzert musizieren. Daraus kann man was machen. Kann glänzen, kann zeigen, wie man den Wahnsinn aus der Gruft gestaltet, die Erleichterung bei der Befreiung von Fidelio und seiner Leonore.

Diese Ouvertüre ist ein ganz besonderes Stück Beethoven – nicht umsonst oft auf Konzertpodien gehört, nicht umsonst von vielen Regisseuren vor das Finale (bisweilen, selten, sogar nach dem glänzenden Dur-Finale in der Oper eingeschoben). In dieser „Ouvertüre“ steckt so viel von menschlicher Kraft und Schwäche, von Liebe und Enttäuschung, Freiheit und Machtwahn –  jedem, der „Fidelio“ schon gehört hat, geht diese Musik durch Mark und Bein. Wenn sie als Gesamtbild entworfen wird, wenn spürbar wird, wie das Schicksal hineinspielt in das Menschenleben. Diese Musik darf nicht rüberkommen wie ein zusammengesetztes Puzzle aus der Arbeit intensiv geprobter Teile. Und Stolz darf nicht nur entstehen, weil Übergänge reibungslos geklappt haben. Das kriegen die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie allemal hin. Sie wollen mitgerissen werden – auch wenn die Flöte noch zu kalt und die Hörner ein bisschen verunsichert sind – zu einem mitreißenden klanglichen Gesamtbild, das zu Tränen rühren kann. Tat es nicht am Donnerstag. Schade.

Versöhnlich der Dvořák zum Schluss. Dessen Siebte ist Weltmusik. Von dem Böhmen selbst in London uraufgeführt, Türöffner für Dvořáks Karriere in Amerika (und für große musikalische Geschenke von dort, die „Sinfonie aus der neuen Welt“ etwa oder das „Amerikanische Streichquartett“). Da zeigte Prießnitz, was er kann. Er machte sich auf vom Dunkel des Anfangs auf den Weg zum Licht des Finales, nahm zügige Tempi, pausierte nur kurz zwischen den Sätzen, ließ den letzten beinahe attacca folgen – nachvollziehbar. Er ließ Bedrohung spüren (Satzschlüsse – sie verklangen nicht in Todespianissimo, der Kampf geht weiter…), triumphalen Glanz (Blechbläser) am vermeintlichen Ziel (erster Satz) und im Finale, formulierte berührende Trauer (Anfang zweiter Satz), und Sehnsucht nach der Einfachheit des böhmischen Lebens auf dem Lande (Scherzo). Das Orchester war jetzt dabei: zu Recht wurden hinterher Holz und Blech (auch die Hörner) hervorgehoben.

Das Publikum spendete großzügig Applaus. Die Musiker erwiesen Gerrit Prießnitz dankbar ihre Reverenz. Deutlich sichtbar mehr hatten sie Aaron Pilsan zugestimmt. Von diesem jungen Mann werden wir (hoffentlich auch in Chemnitz) noch viel hören.

* Anmerkung am 23.11. : Michael Güttler hat uns geschrieben. Er bittet darum, “zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mich keineswegs für eine GMD-Position in Chemnitz beworben habe”.