Ein Hamlet spielt den Hamlet

Ganz, ganz selten passiert das: gefühlt minutenlang Stille. Es ist dunkel. Muss die Pause sein. Dann erst der Beifall. Wieder Stille. Sonst schwadelt der Raum sofort vom Stimmengewirr des Publikums. Am Samstag herrscht Schweigen. Fast lautlos bewegen sich die Zuschauer, darunter OB Barbara Ludwig, ins Foyer. In der Helle steigt langsam der Geräuschpegel an. Stille Betroffenheit weicht den Alltagsperlen im Sektglas.

Nichts ist, wie es scheint. Bogdan Koca lässt daran keinen Zweifel aufkommen. Da wird nicht „Hamlet“ auf die Bühne gebracht, sondern als Rahmenhandlung das Schau-Spiel  von Schauspielern, die „Hamlet“ spielen sollen. Die berühmte Theaterrede Hamlets im dritten Akt („Sprecht die Rede – ich bitt’ Euch – wie ich sie Euch vortrug, mit leichter Zunge; …Auch sägt mir nicht die Luft zu oft mit Euren Händen, … sondern macht es gnädig; denn im reißendsten Strom, im Sturm, und … im Wirbelwind Eurer Leidenschaft müsst Ihr eine Mäßigung erlangen und darzustellen wissen, die den wahren Reiz verleiht.“) spricht hier gleich zu Beginn ein Regisseur zu den noch in alltagsschwarzen Klamotten da sitzenden Akteuren. Die berühmten Zitate fallen aus oder werden anderen, abgeändert, in den Mund gelegt („Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“, „Der Rest ist – nicht – Schweigen“).

Der Schauspieler kennt das Stück, das er gleich, wenn sich der Vorhang hebt, dem Publikum präsentieren wird. Auch der Hamlet-Darsteller kennt seinen „Hamlet“. Er ist nicht der Zerrissene oder Suchende, wie wir ihn von anderen Inszenierungen kennen, er spielt sich zwanghaft, fast masochistisch durch die Situationssplitter, in einer Welt, in der nichts mehr stimmt. In der das Klavier in die Knie geht oder der feste Boden, auf dem wir stehen, immer mehr zur gefährlich schiefen Ebene wird. Je näher die Katastrophe, je verbauter die Fluchtmöglichkeit vor ihr, desto weiter die Bühne. Bis sie sich sogar zu einer Stummfilmleinwand ausdehnt, auf das Schauspiel die pure Illusions-Metamorphose erlebt. Das blutige Mordsende erleben die Schauspieler, schon wieder umgekleidet ins Alltagsschwarz wie wir mit in dem Uraltstummfilm (1920/21) mit Asta Nielsen. Und Schauspieler „Hamlet“ verabschiedet sich von der Figur Hamlet: Ich bin dann mal weg.

Ob der Onkel den Vater umgebracht hat, um sich ins gemachte Thron-Nest zu setzen und ins zerwühlte Inzest-Bett der Mutter zu legen, kann auch eine Kopfgeburt von Hamlet sein. Das schaurige „Es“ der Shakespeare’schen Vatergeistes, der Rache verlangt, ist hier ein möglicherweise nur aus Hamlets Hirn projizierter Dramabeschleuniger aus Fleisch und Blut. Der brave dänische Prinzensympath, mit dem wir bei Shakespeare Mitleid fühlen, weil er im inneren Streit zwischen alttestamentarischem Vatergehorsam (und damit Rache) und neutestamentarischem Gottesgehorsam („Du darfst nicht töten“) zugrundegeht, ist bei Bogdan Koca böse angelegt. Noch nie habe ich einen so bösen Hamlet gesehen – einen, der Ophelia nicht liebt, sondern sie brutal vergewaltigt und in den Wahnsinn treibt, der mit seiner Mutter (Freud lässt grüßen) Sex haben will, wodurch er „schlimmer“ ist als sein Vateronkel. Er überantwortet seine Freunde Güldenstern und Rosenkranz dem sicheren Tod. Er ist ein mephistotelischer Ungeist (großartig umgesetzt, wenn er in seinem langen schwarzen Mantel auf das Klavier jumpt oder sein blutrotes Teufelsgesicht beim Monolog nach dem Mord an Polonius hinausfratzt), der alles Drumrum ins schwarze Loch reißt. (Kostüme: Elżbieta Terlikowska).

Für eine derartige Vielfalt an Tun und Lassen, Sentimentalsein und toll, Monologisieren und Zupacken braucht es einen Schauspieler, der alle Facetten im Spiel und nicht wie (angedeutet im Anfang) Ponto-Deklamiereier in der Kehle hat. Stefan Migge ist Hamlet, der Schauspieler des Hamlet, sein Wahn und seine Verzweiflung. Großartig!. Susanne Stein, in der eigentlich undankbaren, weil Mitihrgeschiehts-Rolle,  wird zur ängstlich liebenden und ängstlich, weil verboten geliebten und liebenden Mutter. Claudius, der Potentat, spielt bei Koca den eigentlich Lieben, dem niemand den Brudermord zutraut, und der dann doch zum Machterhalt auf die Beseitigung des Neffensohnes drängen muss, dessen gleichaltriger Kumpel (und Kommilitone?) er eigentlich ist. Martin Valdeig überzeugte auch durch seine herausragend wohlklingende Sprache. Magda Decker spielte die kleine Liebesmaus genauso innig wie expressiv die dem Wahnsinn verfallene verstoßene Geliebte, Christian Ruth den loyalen, aber unglücksahnenden Horatio, den später einzig Überlebenden am dänischen Königshaus. Güldenstern (Marko Bullak) und Rosenstern (Constantin Lücke) sind nicht Musiker, aber sie spielten Musiker mit Klavier und Geige (und Trommel) – und schaffen damit Atmosphäre. Auch Ulrich Lenk (Polonius), Fabian Jung (Laertes), Philipp von Schön-Angerer (in mehreren Rollen) und die beiden Schauspielstudenten Bianca Kriel und Christian Neuhof (großartig im Gonzago-Schauspiel) seien in dem stimmig zusammen geschweißten Ensemble nicht vergessen. – Das ständig Raus- und Reingerenne zu Beginn und das gelegentliche übernuschelige Pianissimo der Stimmen wird sich beheben lassen in den künftigen Aufführungen, die – zu Recht – schon vielfach fast ausverkauft sind.

Bei Shakespeare spielt die Theaterszene eine wichtige Rolle. Eine Schauspieltruppe soll ein Stück um den Giftmord an einem gewissen Gonzago vorspielen. An der Reaktion des Königs will Hamlet erkennen, ob der Onkel den Vater auf diese Weise umgebracht hat. Theater auf dem Theater. Theater wirkt. Koca macht – durch die von der Theaterszene inspirierte – Rahmenhandlung schon mal Theater hoch drei. Das Patchwork von Bildern (oder die einzelnen Perlen) verdichten sich zum Gesamtbild (oder zur Perlenkette) nicht in Shakespeare’schen Erzählsträngen auf der Bühne, sondern im Betrachter, dem Zuschauer, selbst – als ob er ein berühmtes Bild – etwa von Neo Rauch- anschaut, das (ungeachtet seines Preises) erst in seinem Inneren wichtig wird – indem es Emotionen und Reaktionen hervorruft oder nicht. Indem es ihm etwas sagt, oder nicht. Indem es betroffen macht, oder nicht. Koca ist Hamlet. Das Publikum der König. Koca prüft das Publikum. Und stellt (wahrscheinlich glücklich) fest, es ist betroffen. Jede und jeder auf seine Weise. Die Betroffenheit macht nach-innen-hörend, sprachlos, still. Wer kehrt dem Nachbarn gegenüber schon gern sein Innerstes nach außen.

Kocas „Hamlet“ ist eine beeindruckende Regiearbeit. Und großes Theater. Heftiger Beifall, schwellend für Stefan Migge. Man hat dem neuen Schauspieldirektor Carsten Knödler vorgeworfen, er opfere die Kunst den Publikumszahlen. Unsinn. Siehe Samstag. Zu diesem „Hamlet“ gehört bei den Theatermachern Mut. Dass Knödler ihn ausgerechnet zu seinem Geburtstag aufgebracht hat, ehrt ihn. Glückwunsch!

Die nächsten Vorstellungen: 6., 12., 29. März