Ein Eisklotz, wem das nicht unter die Haut geht

Schon das Preisträgerstück der ersten Runde, Martin Bauchs „Die Erben des Galilei“, hatte eingeschlagen. „Zerstörte Seele“ könnte den Erfolg noch toppen. Warum? Eine Spurensuche.

Das Thema: Kindesmissbrauch, speziell der sexuelle Missbrauch von Männern an Jungen, ist abseits der allgemeinen Gutmenschentrüstung noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema. Trotz Odenwaldschule, trotz Edathy. Die Opfer werden, wenn überhaupt, bemitleidet. Mit deren Eltern beschäftigt sich fast niemand, mit den Tätern erst recht keiner. „Bin ich denn kein Mensch mehr?“, fragt Marcus, der Täter, einmal im Stück. Jan Peterhanwahr, der so ruhig wirkende 28-jährige Referendar (Englisch, Geschichte) wagt es – äußerlich zupackend hart und gleichzeitig auf den Krieg in den Seelen schauend, den mindestens zwei Seelen jeweils in der Brust von Täter, aber auch vom Opfer.

Die Dramatisierung. Der gute alte Lessing, gewiefter Praktiker, aber auch nachdenklicher Theatertheoretiker, hat „Furcht und Mitleid“ als die Affekte beschrieben, mit denen das Publikum am meisten zu gewinnen sei. Peterhanwahr spielt damit, als ob ihm die „Hamburgische Dramaturgie“ in die Wiege gelegt worden wäre. Nicht nur, was die Einheit von Handlung, Raum und Zeit angeht. Selbst die Härtestgesottenen im Publikum spüren am Ende Mitleid mit dem Täter unter dem drohenden Strick, obwohl sie mit dem Opfer weitere Opfer fürchten. Sie haben Mitleid mit dem Opfer und fürchten, dass das Opfer schuldigunschuldiger Täter werden könnte. Das ist perfekt gemacht und immer wieder überraschend. Keiner, ob Intendant oder Zuschauer, ging ungerührt nach Hause.

Die Dramaturgie. Kathrin Brune hatte die Jury geleitet. Mit zwei Kunstgriffen hat sie dem starken Stück noch mehr Kraft verliehen. In die Einspielung der Therapeutin, die den Täter beurteilt,  schmuggelt sie eine Differenzierung der Täterprofile – das hört sich zwar ziemlich verquast wissenschaftlich an, aber in den paar Sekunden wird klar, dass der Täter mindestens auch zwei Seelen in seiner Brust hat. Das ist gegen den Soziokonsens: Tat, schuldig, zack, aus, Knast, Anstalt. Konsequent widmet Kathrin Brune das (Lesen!) Programmheft fast vollständig dem Thema „Verstehen“, nicht „Verständnis“, auch wenn sie daraus erwachsen könnte. (Am Rande: Wann gibt’s Programmhefte endlich auch zum Runterladen, meinetwegen hinter einer Paywall?). Der zweite Kunstgriff ist der Schluss. Peterhanwahr hatte ihn ursprünglich offen gelassen: geh heim, Zuschauer, und überlege, ob Du zum Mörder würdest, um weitere Opfer zu verhindern. (Bei Peterhanwahr heißt der 4. Akt „Ende“, hier „Schicksal“…)  Der Schluss bleibt offen – kriegt aber eine dramatische Spitze (die hier nicht verraten werden soll. Die Spannung soll ja für künftige Besucher erhalten bleiben). Peterhanwahr zeigte sich nach der Vorstellung mit dem geänderten Schluss sehr einverstanden.

Das Bühnenbild. Das Geschehen spielt sich in einem Würfel ab, vielleicht fünf auf fünf Meter. Mit vielen Löchern. Das Publikum sitzt drum herum auf Hockern. Wahnsinns-Idee von Petra Linsel, so die offizielle Distanz der Gesellschaft und deren geheime Gucklochsensationsgelüste darzustellen. Dabei sitzen die da draußen auf den gleichen Hockern wie die da drin. Nähe und Ferne. Überraschung auch, die den Intendanten an die japanischen Gärten erinnern, die oft mit einem riesigen Stein verhüllen, was dann erst recht zum großen „wow“ verführt, wenn man erst sehen darf…

Die Aktualität. Nicht beabsichtigt, aber in dieser Woche kommt man nicht drumrum. Wie sicher ist die Diagnose, wenn Psychiater einen Co-Piloten oder einen Kinderschänder als gesund oder gesellschaftstauglich entlassen…

Die Regie. Auch Alexander Flache saß in der Jury. Er hätte auch ein anderes Preisträgerstück geleitet. Aber dieses Stück muss ihn bei der Arbeit besonders fasziniert haben. Die leisen Töne, die gestammelten, die aus der Ecke, hinter Aktenordnern vergrabenen laut werdenden Gedanken der zerstörten Seelen (sind’s nicht beide, auch wenn der Titel nur von einer spricht?) – das Publikum strengt sich an, keine Silbe zu überhören: „Aber ich war doch ein Kind…“, „Aber ich hab dich doch geliebt…“. Gänsehaut. Dann der Regisseur aber auch Rampensau. Wie soll Felix, das Opfer, ausbrechen aus dem 14jährigen Leid des Erinnerungsgefängnisses, wie soll er Frieden finden. Wieviel Stühle wolle er noch zerschlagen, hatte die Therapeutin gefragt, bis er seinen Zorn abreagiert habe? Alexander Flache lässt Felix ausbrechen aus dem Würfelgefängnis, lässt ihn zu ohrenbetäubender Musik durchs Publikum toben, Befreiung suchend, oder doch eher Betäubung? Ganz stark.

Die Schauspieler. Marko Bullack (Marcus) und Christoph Radakovits (Felix) gaben alles. Das klingt übertrieben. Ist es nicht. Die Probe vom Montag musste wegen Krankheit verschoben werden. Bei der Generalprobe am Donnerstag knallte Marko Bullack gegen eine Hockerkante. Platzwunde am Kopf. Aber am Freitag spielten sie wieder, dass man Angst um sie haben musste. Und Hochachtung, wie sie in die Figuren hineinschlüpften. Bullack, röchelnd am Boden, oder Radakovits stammelnd in der Ecke – große Schauspielkunst. Christoph Radakovits kommt von der Kunstuni Graz. Ist hier im Schauspielstudio (Gott sei Dank, dass der Theaterförderverein es erhalten hat). Von Chemnitz weg wurde der junge Schauspieler direkt an die Burg in Wien engagiert. Hut ab. Wer ihn am Freitag erlebt hat, weiß warum. Als Widerling Sympathie erwecken, gar Mitleid erregen, ist hartes Brot. Gut gemacht, Marko Bullack.

Ein ganz großer Abend auf kleinem Raum. Ein hoffnungsvoller Autor. Ein starkes Stück. Und eine packende Uraufführung. Vom „Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik 2015“ wird man noch viel hören. Und von dem Preis generell erst recht. Auch 2016 wird es ihn geben. Hoffentlich hat die Jury wieder ein so gutes Händchen.

Die nächsten Vorstellungen: 3., 10., 15. April, 5. Mai
Vorankündigung des Theaters