„Don Carlos“ in Chemnitz: die Tragödie Philipps II.

Aus der Hand Verdis gibt es sieben Fassungen der Oper. Im Prinzip unterscheiden sie sich durch die Länge. Bei der Uraufführung in Paris (damals Protzoper hoch drei, Scala, Met, Wien und Salzburg in einem) waren den Meyerbeer-verwöhnten Franzosen (erinnern Sie sich noch an den Chemnitzer „Vasco de Gama“, die gefeierte „Wiederentdeckung des Jahres“ und eine der acht besten europäischen Operninszenierungen von 2013?) fünf Akte nicht zu viel (obwohl Verdi auch hier noch bei der Generalprobe gekürzt hat), später bei den unruhigen, quirligeren Italienern musste Verdi gewaltig mit dem Rotstift ran und die fünf auf vier Akte streichen. Chemnitz entschied sich für den französischen Titel („Don Carlos“) und spielte eine vieraktige italienische Version des „Don Carlo“. Dramaturg Jón Philipp von Linden hatte für deutsche Übertitel gesorgt – und (dankenswert) mit Anfangsbuchstaben auch gekennzeichnet, wer in Ensembles gerade was sang. Dienst am Publikum, dazu sind sich andere Dramaturgen gern zu schade.

Für möglichst viel Verständlichkeit zu sorgen, war auch deshalb nötig, weil die Dresdner Regisseurin Helen Malkowsky sich eine ganz eigene Sicht auf die Handlung zusammen gezimmert hatte, die so weder bei Schiller, noch bei Verdi zu lesen ist, die aber immerhin im Programmheft steht. Dort erfährt der geneigte Besucher denn auch, dass der Mann im unkaiserlichen Unterhemd zu den Auftaktklängen der Hörner (die wurden übrigens von da an immer besser) Karl V. ist, der, von Sohn Philipp gezwungen, seine Abdankung unterschreibt und mitnichten tot ist und unter einer Grabplatte im Kloster St.Juste liegt. Diese Vorspielpantomime ist notwendig, weil der Malkowsky-Karl am Ende nicht der Mönch aus dem Jenseits ist, sondern lebt, schwarze Hose, weißes Hemd, Mönchskutte weggeworfen. Warum sich da die Umstehenden (wie es Verdi komponiert hat) erschüttert wundern, dass sie die Stimme von Karl hören, wundert nun wieder das Publikum…

Die Hoffnung stirbt nicht. Auch nicht zuletzt. Es gibt keine

Aber mit den Stimmen aus dem Jenseits oder von oben hat es Helen Malkowsky eh nicht. Auch die „Stimme vom Himmel“ (Libretto) ist ganz diesseitig – obwohl wir Guibee Yang auch gern sehen, nicht nur ihre Stimme hinter dem Vorhang hören: sie, die vorher nach Frankreich verstoßene Hofdame, singt aus dem Kerker den armen Menschen, die beim Autodafé (angebliche Ketzer schickte die Inquisition auf den Scheiterhaufen) verbrannt werden sollen, überirdische Hoffnung zu: „Fliegt zum Himmel empor, fliegt empor ihr armen Seelen! Erfreut euch bald am Frieden des Herrn“. Aber vom Verbrennen sieht man hier eh nichts (Salzburg hat da letztes Jahr eine Feuer-Orgie entfesselt). Dann ist das sonst entscheidende Autodafé auch genauso wenig schlimm, wie wenn Don Carlos am Schluss von den Mönchen des Großinquisitors (Schiller-, aber nicht Verdi-nah)abgeführt, statt vom vergeistigten Jenseits-Mönch Karl dem irdischen Gottesanspruch der Inquisition entzogen und in die wahrhaft himmlische Gottesgnade gerettet wird. Die Hoffnung stirbt hier nicht zuletzt. Es gibt keine.

Schon gar nicht für König Philipp, der die Verlobte seines Sohnes zu dessen Stiefmutter gemacht hat. Der Mann, der (Text!) die halbe Welt beherrscht, aber nicht Herr über sich selbst ist, kämpft Kämpfe, die er am Ende nur tragisch verlieren kann: gegen die angemaßte himmlische Macht der Inquisition, die den Sieg über seine kaiserliche Ohnmacht davonträgt, für „seine“ Elisabeth, die seinen Sohn liebt, dem er wiederum, weil der Großinquisitor Strafe verlangt, Vaterliebe nicht schenken darf, vor dem er andererseits Angst hat, schickte er ihn nach Flandern, weil von da könnte er ja mit der ganzen ketzerischen lutherischen Bagage ins erzkatholische und inquisitionsbrave Spanien einrücken. Auch seinen einzigen Vertrauten muss Philipp – und gar auch noch auf falsche Verdächtigung hin – umbringen lassen, den Marquis de Posa. Und so steht er am Schluss betröppelt da,  hat – trotz bestem Willen – alles verloren. Tragisch. Hoffnung gibt es keine. Schon gar nicht von oben. Sieger bleibt der Großinquisitor.  Das ist die Geschichte, die Helen Malkowsky erzählt. Und sie erzählt nicht schlecht. Etwa wenn der verzweifelte König haareraufend durch die Menge irrt, weil er nicht weiß, wie er sich entscheiden soll, ahnend, dass eh alles ins Unglück führt. Die Malkowsky-Geschichte müsste eigentlich „Philipp II.“ heißen…

Hochzeitsvideo aus der St.Petri-Kirche

Es gibt dumme Bilder in dieser Inszenierung – etwa das naiv doofe stumpfe Ess- Messer vom Tisch als Zeichen für den Dolch, mit dem Carlos erst seinen Vater umbringen müsste, ehe er Elisabeth kriegte, oder: warum setzt sich einer, der in die Verbannung geschickt und dadurch endgültig vom Liebsten, was er hat, getrennt wird, auf einen Stuhl neben den abgegessenen Tisch, schlägt die Beine übereinander und beklagt behäbig geflätzt sein herzzerreißendes grausames Schicksal? Warum müssen hochbrisante Streng-vertraulich-Unterlagen oder Liebesbriefe auf dem Boden rumfahren oder an den Stamm eines Baumes geheftet werden, der in schöner Nachmittagssonne strahlt, während es Mitternacht ist (was, schnipp, schnapp, Feuerzeug raus, Lampe angezündet –  schnell geholfen wird, wie Frau Pooth vermutlich sagen würde)? Es gibt auch beeindruckende Bilder: die Verzweiflung von Carlos bei der Videoeinspielung der Trauung – übrigens aus der neben dem Opernhaus liegenden St. Petri-Kirche (schöne Idee, wenn wahrscheinlich auch ein paar mehr Leute im Schiff bei der Königshochzeit dabei gewesen wären…Sparen! Auch Statisten kosten) oder die Szene um den sterbenden Posa, den Freund, dem Carlos in jenem wunderbaren Duett im ersten Akt ewige Treue geschworen hat.

Was die Chemnitzer Inszenierung aber vor allem sehenswert macht, sind die schnellen Schnitte zu jeder der vielen Geschichten und Ereignisse, die das großartige, fast wie ein Irrgarten (passt zu den Gefühlen der Protagonisten) angelegte Bühnenbild von Kathrin-Susann Brose für jede noch so intimme oder Massenszene erlaubt, bestens unterstützt von der intelligenten Lichtgestaltung (Holger Reinke). Durch die kinoreifen schnellen Schnitte geschieht optisch immer wieder Neues, Unerwartetes, andere Eindrücke prägen sich ein und überlagern sich mit Vorher und Nachher (Autodafé und Himmelstimme aus dem Kerker zum Beispiel).

Optisch ist diese Inszenierung allemal ein Genuss. Ein großer sogar. Musikalisch erst recht. Gute Sängerinnen und Sänger in den Hauptrollen: die (schwangere, Hut ab!) Maraike Schröder als zerrissen zarte und sentimental trauernde Elisabeth, Tuomas Pursio (vier Finn/in/en und zwei Koreaner  standen auf der „italienischen“ Bühne – gefällt uns) als zweifelnd verzweifelnder Philipp, der sängerisch um Klassen mehr als schauspielerisch überzeugende Christian Juslin als Carlos, Anna Danik, die böse, später so reuig liebe Ex-Königs-Mätresse und Elisabeth-Falschfreundin Eboli, der nicht von Statur (so stellt man sich den spanischen Granden kaum vor), wohl aber von Stimme und Spiel herausragenden Posa (Adam Kim hat zu echt den meisten Beifall bekommen), Kouta Räsänen, der im Gegensatz zu seiner faltigen Kostümglatze seinen bitterbös glatten, kompromisslosen  Großinquisitoren-Bass entfaltete, Matthias Winter als lebender und sonst so entscheidender Hoffnungs-Mönch Karl V. und Edward Randall, der wohl am meisten bedauert hat, das Chemnitz den ursprünglich ersten Akt im Wald von Fontainebleau nicht spielt. Dort hat er eine entscheidene Partie: Er überbringt den Liebenden, den auf den ersten Blick tödlich in einander Verschossenen (das kriegt das Publikum so nicht mit, wenn der erste Akt gestrichen ist) die zerstörende Botschaft, dass Philipp die Verlobte seines Sohnes selbst will. – Der Chor (Frank Zimmermann hat ihn einstudiert) nach ersten Zitterern großartig und wahrlich groß, trotz der vielen Fremden von überall her im ergänzenden Extrachor,  subtil solistisch in den kleinen Gruppierungen.

Liebe juchzende Flöten

Frank Beermann hat es drauf, grand opéras zu dirigieren (siehe „Vasco“). Da braucht es einen langen Atem und höchste Konzentration über fast vier Stunden weg. Der ungewöhnliche Pariser Verdi (ihn zog’s am Lebensende ebenso zur Krönung in das Opern-Mekka wie etwa Rossini oder Donizetti) macht es etwas leichter als Meyerbeer – die vielen Bilder, da ist ständig Abwechslung, auch in der Musik, da ist keine Zeit für ausgewalzte Arien, so schön die Melodien sind. Das hält wach, fordert aber immer wieder eine neue Einstellung des Orchesters. Das muss mitmachen. Hat es, Sie ahnen es. Die Robert-Schumann-Philharmonie hatte ihre spürbare Freude an diesem schnellen Bildmusikmix, den unterschiedlichen Klangfarben (spätere Filmmusik lässt grüßen), den kammertonigen Hochholzbläserpassagen ebenso wie fanfarblechdominierten dröhnend gewaltigen Tutti, in den sängerbegleitenden Trompeten oder dem Englisch-Horn, den Liebe juchzenden Flöten und der grellen Piccolo, oder den mit Großinquisitor und Philipp konzertierenden Kontrabässen und dem Kontrafagott. Das Schönste aber waren die Geigenkantilenen des plötzlich wieder italienischen Verdi und jenes wunderbare Cello-Solo (großartig Jakub Tylman) hin zur Philipp-Arie.

Augen zu, sich reinlegen in diese Himmelstöne zu irdisch bösem Geschehen, die Augen auf und reizvolle Bilder sehen – so macht der Chemnitzer „Don Carlos“ Freude. Nicht viel nachdenken über die Inszenierung. Das sollen Kritiker tun. Deswegen heißen sie so. Der Beifall wurde nach Sekunden rhythmisch – heißt (neben den Bravi) Lob mit Sternchen. Das Publikum der Premiere war hocherfreut und glücklich.

„Wenn jetzt die kommenden Aufführungen auch so gut verkauft sind…“, hoffte Generalintendant Christoph Dittrich vor der Premiere. Große Sorgen muss er sich nach dieser Premiere nicht machen. Nach langen Arbeitstagen mögen vier Stunden Verdi ein bisschen beschwerlich, an Wochenenden werden sie göttlich sein. Auch wenn dann in der Tiefgaragenausfahrt das irdische Licht wieder spargründig abgeschaltet ist. Vier Sternstunden reichen schließlich. Wo kämen wir denn sonst hin. Wir lieben’s in Chemnitz  doch so gern grau in grau. Oder?

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