Die Ratten und der Stier

Stier hat spürbar noch viele Fans in Chemnitz.  Und mit Rachmaninows 2. Sinfonie hatte er sich ein romantisches Paradewerk ausgesucht, mit dem er so recht wieder die Herzen der Chemnitzer erobern konnte. Da fließen die Melodien zum Herzerweichen, glänzt schaurig-schön das Blech, dürfen die Holzbläser auch solistisch zeigen, wie gut sie sind. Stier dirigiert heute mit dem ganzen Körper, die Arme weit ausholend, oder mit der Linken Vibrato andeutend, um noch mehr Ton herauszukitzeln. Er kümmert sich um jeden Vorhalt oder Auftakt, Tutti werfen ihn direkt in die Höhe, bei den schlussendlichen Bass-Plums fällt er mit der Musik in sich zusammen. Stier dirigiert große Linien, nicht so sehr das Detail, holt jeden Effekt dieser an Effekten wahrlich nicht armen Sinfonie heraus, formt Melodien, wo er russische Seele spürt. Seine Bewegungen reißen das Publikum mit, unter dem sich der eine oder andere fragt, wie denn die Musiker wissen, was denn wirklich der „Schlag“ ist – kein Problem für die Ex-Weggefährten und die Jungen in der Robert-Schumann-Philharmonie, Profis allesamt. Auch wenn die „vereinigten Sägewerke“, wie ein Klarinettist einmal gern lästerte, in der Fuge etwa nicht so ganz vereinigt waren… Ein prachtvolles Konzert, bei dem nicht nur die Philharmonie wieder einmal glänzte, sondern Eckehard Stier seine Fans beglückte und neue gewann.

Aber wie Andreas Kißling, der Flötenfänger von der Dresdner Staatskapelle, mit den Flöten- und Trommler-Kindern der Chemnitzer Musikschule durch die Gänge der Stadthalle zog – da hatten die „Alten“ auf dem Podium samt ihrem Staboberhaupt keine Chance mehr. Wochenlang, seit August, hatten sie geübt, Stier selbst war zu manchen Proben gekommen. Jetzt, vor dem großen Publikum, hatten sie keine Angst mehr – sie machten ihr Ding wie dereinst die Kinder in Hameln (oder Chemnitz, äh…, oder sonst wo, wie Eckehard Stier zu Beginn erzählte), die – Zukunft – ihr Geschick in der Ferne suchten und die Alten und Überalterten daheim zurückließen. Sie hatten die Flötentöne und Trommeln voll im Griff, den Dirigenten brauchten sie erst wieder zur gemeinsamen Verbeugung…

Die farbige Lichtunterstützung im Saal und auf der Bühne tat ein Übriges, um Atmosphäre zu schaffen für John Coriglianos Märchen vom Rattenfänger zu Hameln, die „Pied Piper Fantasy“ überschrieben ist. Ratten gibt’s überall, Rattenfänger auch. Und Kinder, die hinausziehen in die Welt und die Alten zurück und in ihrem Saft schmoren lasen.

Musikalisch ist Coriglianos Werk höchst vertrackt. Der amerikanische Komponist (weltweit gefeiert für seine Musik zur „Red violine“ – spielte Heidrun Sandmann mit riesigem Applaus im Februar-Sinfoniekonzert) mag zwar, wenn das Publikum nicht abgeschreckt wird von Neutönen, Aber er komponiert wild und verrückt, lässt Raum für Improvisationen und verlangt schier Unbläserisches (Kadenz!) vom Solisten mit seinen beiden Flöten, der Quer- und der Zinkflöte. Desto bewundernswerter, dass Andreas Kißling nach nu wenigen Minuten Bedenkzeit sofort zugesagt habe, wie das Programmheft vermeldet, und dass er auch den schauspielerischen Part so gern und liebevoll übernahm. Überblasen, Oktaven andeuten, Rattenquietscher simulieren – das war schlichtweg gekonnt. Zu Recht beschenkte ihn die Flötengarde der Robert-Schumann-Philharmonie gesondert, was nicht gerade üblich ist, und Sabine Bruder ließ für den Rattenfänger aus Dresden auch gern eine niedliche Stoff-Ratte frei…

Eckehard Stier, der das Werk gut kennt und es auch schon anderswo aufgeführt hat, hatte hier eine ganz andere Aufgabe als bei der Rachmaninow-Sinfonie. Hier musste ein großer, divergierender Apparat zusammengehalten werden, mussten Akzente auf die Zehntelsekunde platzen, musste Rattengetrappel hörbar gemacht werden. Corigliano verlangt extrem viel von den Musikern, er schreibt für das Publikum – die Musiker müssen damit fertig werden. Gefühlt untermalen sie minutenlang irgendwelche Soli, dann wieder verlangt der Komponist lippen– und bogenbrecherische Aktionen, die mehr Leben zeigen, als dass sie wirklich hörbar sind. Da mussten die Plim-Plims von Klavier oder Harfe genauso sitzen, wie das Bassgebrummel oder das Rattengetrommel. Stier, spürbar ruhiger, mit mehr Blicken auf die Noten als beim Rachmaninow, signalisierte deutlich, was und wie lang er etwas hören wollte, schuf Platz für Improvisationen und ließ es ordentlich knallen.

Ein wahrhaft märchenhaftes Konzert in der Vorweihnachtszeit. Mit einem gern gesehenen Heimkehrer, einem fabelhaften Orchester, einem Rattenfänger, der uns die Flötentöne beibrachte und Kindern von der Musikschule, die die eigentlichen Stars des Abends waren.