Des Menschen Wille… seine Hölle?

Am Schluss hängt die ganze Bühne voller Wäsche an Leinen – starkes Bild für den ach so öden geregelten Alltag unter Menschen. Wäsche waschen, anziehen, schmutzig machen, waschen. Immer und nochmal – es kotzt einen an. Alle wollen sie ausbrechen aus den Zwängen der Gesellschaft, ohne die sie aber einsam sind und kaputtgehen. Wie Johannes Vockerat im seichten Wasser des nach vorne offenen Pools, den Johanna Pfau (Bühne und Kostüme) auf die Chemnitzer Bühne stellen ließ.

Bei Hauptmann geht der unverstandene Dr. Johannes ins Wasser und ersäuft sich im Müggelsee. Hier machen sich im Wasser alle nass und stehen am Ende da wie begossene Pudel, mit denen man nur Mitleid haben kann.

Nur eine scheint halbwegs heil aus dem Desaster rauszukommen: Anna Mahr, die junge Studentin, die in die trügerische Familienidylle der Vockerats eingebrochen ist. Aber das täuscht. Seraina Leuenberger spielt virtuos ehrlich dieses Mädchen, das sich nach einer selbst so kaputten Gemeinschaft sehnt. Aber sie, die aus Reval kommt, in Zürich studiert, in Paris den Maler Braun kennen gelernt hat, wird verschwinden, in den gleichen Klamotten, in denen sie gekommen ist. In die gleiche Richtung, woher sie gekommen ist: Nach Norden, Süden, Osten, Westen. Sie ist Braun hinterhergezogen, kommt Johannes nahe, herzt die „Mama“ – und küsst leidenschaftlich ihre Kontrahentin Käthe. Sie malt sich an wie ein Clown, macht ihre Scherze, doch wie’s da drin aussieht…

Seraina Leuenberger spielt das Mädchen aus der anderen Welt virtuos – ob sie sich auszieht, oder ob sie sich mit den Klamotten von der Leine verkleidet. Was eigentlich beides so gar nicht geht, in einer Welt, in der Frau Mama genau weiß, welche Schürze sie zum Wäschehängen (die mit der Klammertasche) und welch Schürzchen sie zum Kochen braucht, und die auch schon mal den erwachsenen Sohn und Vater auffordert, sich mal anders anzuziehen. Sie verstellt sich nicht – kann aber auch nicht wirklich aus sich raus. Ob die Studentin Anna wirklich klug ist? Ob sie mit Johannes über dessen unvollendetes und nicht vollendbares Stück Philopsychosophie diskutieren könnte? Was denkt eine Frau, die sich eben aus ihrem Badeanzug geschält hat und nackt wie Eva im Paradies vor ihrem Johannes steht, der aber ungerührt weiter im Pool in seinem zerfledderten Manuskript blättert? Kann sie Liebe geben, wenn sie keine kriegt und nur da bleiben soll? Weil sie anders ist als die von Johannes gehasste Bürgerlichkeit, der er doch nicht entkommen kann, weil sein Ego nur von ihr bestätigt werden könnte?

Jan Gerrit Brüggemann ist dieser Johannes. Er hat geheiratet, gewiss. Er hat seine Vaterpflicht erfüllt, gewiss. Er war auch bei der Taufe des Kindes. Gehört sich so. Aber erstens, zweitens, drittens kommt was anderes: seine Arbeit. Und damit kommt er nicht voran, weil niemand schätzt, was er tut, und ihn seine Frau Käthe nervt mit der Alltagspost. Nur aus dem Augenwinkel nimmt er die besorgte  Mutter wahr, die Standpredigt des Vaters, die Mahnung des Freundes – das erschüttert ihn alles nicht so wie sein Inneres, das ihn durchschüttelt, dass er epileptisch fast zuckt und vom Sprungbrett, seinem äußeren Rückzugsort in den inneren, nur herunter springen kann, dass man meint, er müsse sich die Füße brechen.

Johannes merkt nicht, dass sich Käthe immer weiter von ihm entfernt, und der Einsame dadurch noch einsamer wird, bis er schließlich mit der Ohnmächtigen gleichsam einen Totentanz walzt, eine Willenlose im Arm, die scheinbar seinem Willen gehorcht. Eine der ganz starken Szenen dieser Aufführung.

Und eine Glanzleistung nicht nur von Brüggemann, sondern auch von Magda Decker, der Käthe. Sie ist ohnehin ganz stark, wenn sie nicht sprechen darf, wenn sie präsent ist mit ihren großen Augen, und mit den spielenden Händen. Im Badeanzug kommt sie zu Beginn herein und platscht sich ins flache Wasser, die Zuschauer lachen, da könnte aus Hauptmann noch ein Boulevard-Stück werden, eine Dreieckskomödie. Aber der Spaß ist schnell vorbei. Und je mehr sie anzieht, desto kälter wird ihre Beziehung zu dem Gatten (Nina Mattenklotz lässt alles sprechen, auch die Kleider, auch die Bewegungen, das Oben und Unten, das Wasser und die tropfenden Turnschuhe – und am Ende, als alle Bindungen kaputt sind und alle Gefühle erfroren sind, auch den Bühnenhimmel, der Schnee rieseln lässt).

Für die Mutter, Susanne Stein, brechen alle Welten zusammen, und alle ihre bigott frommen Sprüche helfen nichts mehr, wenn die Menschen denken oder nicht, und Gott nicht lenkt, es keine Ordnung mehr gibt. Alle kommen sie irgendwann zu ihr, lassen sich herzen oder trösten, aber in Wirklichkeit ist sie gar nicht da, außer wenn sie zum Essen ruft. Sie und ihre geregelte Weltordnung sterben stumm vor sich hin – am Bühnenrand, hilflos, allein gelassen, mitanhörend, wie der Vater (er hat ja recht) den Sohn beschimpft (aber es ist doch unser Sohn…). Große Leistung auch von Susanne Stein.

Andreas Manz-Kozár als Vater hat seine große Szene in dieser Standpredigt, die mit allen Stereotypen, die schon tausende Eltern um Dankbarkeit heischend, ihren Kindern ins Gesicht gebrüllt haben, so ärmlich und ohne Wirkung bleibt. Freund Braun, der Maler (Christian Ruth), der sein großes Bild, dessentwegen Anna gekommen war, genauso wenig fertig bringen wird wie Johannes sein Opus maximum, kann zwar gleich nach der Taufe noch munter eine Art Polonaise durchs Poolwasser anzetteln, aber mit gemeinsamer Freude hat „Atte, katte nuwa“ nichts zu tun. Kinderkram, wie vieles, was dieser selbst ernannte Paradiesvogel sonst noch von sich gibt, der am Ende genauso einsam und allein ist wie alle anderen. Aus die Maus.

Nina Mattenklotz (mit der Regie zu Uta Bierbaums „Die Zärtlichkeit der Hunde“ hat sie in Chemnitz schon einmal gezeigt, wie zartfühlend sie Menschen zeichnen kann, die Nähe suchen) hat sehr behutsam Entwicklungen ent- und verhüllt. Man muss genau hinsehen und hinhören (nicht nur, weil manchmal sehr leise gesprochen wird) in diesem Kammerspiel. Wenn etwa die jungen Frauen Anna und Käthe Nähe zu spüren scheinen, oder wenn in einem berührenden „Duett“ Käthe von oben fast im Gleichklang Johannes‘ ausgesprochene Gedanken mitspricht – sie sind sich näher, als sie denken, und doch so allein. Nur der Musikant spürt, was hinter den „Fassaden“ abgeht. Steffen Claußner malt behutsam Atmosphäre, lässt das Akkordeon dröhnen, wenn Magda neben ihm, dem einzig Freien, das eine Mal aus sich herausgeht und nach „Freiheit“ brüllt, aber auch, wenn er allein durch zwei schrill pfeifende hohe Halbtöne die Wahnsinnsattacken von Johannes‘ filmreif übermalt.

Ein eindrücklicher Abend, ein berührendes Kammerspiel. Viel Beifall.

Die nächsten Aufführungen: 23. Februar, 9. Und 21. März, 13. April