Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Ist es Lüge, wenn das Programmheft Molière nur neun Jahre leben lässt und dessen Geburtsort („Versaille“) still und heimlich das schlossprächtig krönende „s“ klaut? Ob sie die kleine Schwindelei merken, all die, die die Wahrheit mit Löffeln gefressen haben und doch jeden Tag Lügensuppe löffeln? Spaß beiseite: Spieglein, Spieglein… Molières „Menschenfeind“ („Misanthrope“ ist schöner. Heißt so etwa: Mensch sein ist bää) bringt mit viel Spaß so viel Wahrheit über Mensch an sich ans Licht, dass es schon fast weh tut. Ist meine Wahrheit die richtige, oder Deine? Ist die deutsche Demokratie die einzig wahre (gestern war Tag der Einheit) oder die amerikanische, mit der sie die Welt von Irak bis Afghanistan beglücken will, in der aber mehr Menschen durch durchgeknallte Attentäter sterben als durch terroristische Anschläge, nur weil Obama das Knarren-Verbot nicht durchsetzen kann? Wer lügt mehr, Putin oder Obama, oder beide, oder keiner? Und unser allgegenwärtiges „Ich bin ja für… (oder gegen), aber…“? Molières Thema ist zeitlos.
Knödler verzichtete denn auch auf jeden aktualisierenden Zeitbezug. Die Kostüme (Elżbieta Terlikowska), bisweilen laufstegtauglich schön, gaukelten zwar 20er-Jahre-Chic vor – aber das ist nur ein gelungener Trick, diese Wahrheit, weil angeblich von gestern, ausblenden zu können, so es denn heute eine andere gibt… Heute sind wir ja viel weiter!
Molière hat eine „Komödie“ geschrieben. Hätte gereicht. Was hinter „Komödie“ versteckt sein kann, hat mal ein Großer gezeigt, als er seine „Divina commedia“ dichtete. In Chemnitz schafft’s die „Komödie“ noch auf’s Titelblatt des Programmhefts, innen ist von „Tragikomödie“ die Rede. Einer der größten Tragikomödien-Schreiber war Friedrich Dürrenmatt. Dessen „Besuch der alten Dame“ steht als letzte Premiere der Spielzeit auf dem Spielplan. Tragikomödie zu Beginn und zum Schluss? Das Motto der Spielzeit heißt „Festung.Ich“. Ich eine Festung? Kann es sein, dass menschliche Existenz tragikomisch an sich ist? Der Auftakt verspricht eine interessante Spielzeit.
Knödler hat Molière an drei wesentlichen Stellen modifiziert und akzentuiert. Der Kick seiner Inszenierung.
1. Das Lied „Wenn ich ein Vöglein wär“ gab’s zu Molières Zeiten gar nicht. Hat erst Herder 200 Jahre später ausgegraben, bearbeitet und in seine Volksliedersammlung gesteckt. Bei Molière kommt das „gute“ Beispiel für Dichtung auch nur einmal vor – eine Art altprovençalischer Minnesang. Knödler lässt das Vöglein ständig einspielen, mal gut, mal hopplawasistdenndasfüreinsch… -gesungen wiedergeben. Merke: Gutes ist nicht per se gut. Wahres nicht per se wahr. Aber die Sehnsucht bleibt.
2. Das Geschehen spielt sich auf einem Schiff ab. Es heißt Célimène. Vom Schiff kommt keiner runter. Von Célimène keiner der Akteure weg. Auch sie ist im eigenen Ich gefangen. Verstrickt sich schließlich in ihren Lügen. Wie jeder von uns. Und Alceste. Merke: Wahrheit ist nie die Weisheit eines Einzelmenschen. Und die Insel der absoluten Wahrheit, wohin das Schiff führen könnte, gibt es nicht.
3. All die Liebhaber verschwinden plitsch-platsch sauf ab im Meer. Bei Molière wünschen sie höhnisch Adieu und gutes Gelingen der Liebschaft und machen sich auf die Socken, um weiterzuleben wie bisher. Wenn’s sein muss, auch ohne die beiden Wahrheits-Bekloppten Alceste und Célimène. Die Welt dreht sich weiter. Hier dreht sich’s nur im Kopf von Alceste am Schluss. Und das Meer der Lüge spuckt Célimène aus, die mit zu viel Wahrheit infiziert ist. Weil sie diesen Alceste liebt, weil er anders ist als die Anderen.
Bei einem so textlastigen Stück, auch noch mit gereimten Versen, braucht es eine gute Personenregie. Die beherrscht Knödler perfekt bis in Kleinigkeiten. Allein Acaste und Clitandre, die aufgestellt sind wie Roby und Toby. Herrlich! Aber da sind wir schon ein paar Schritte weiter. Knödler hatte wohl schon den Dürrenmatt im Sinn.
Und es bedarf herausragender Schauspieler. Die nicht nur in gereimten Versen schreien, zärteln und bigottieren können, sondern die es auch drauf haben, Schau zu spielen, wo es Schau eigentlich nur zwischen den Stimmritzen und in den grauen Gehirnzellen beim Reimesuchen gibt.
Ganz vorn Philipp Otto als Alceste. Kalt, wütend, und dann wieder gern das Vögelein mit den beiden Flügelein. Gleichermaßen groß in moralischer Wahrheit angezogen (in Schwarz! Gut und erfolgreich ist in Molières Gesellschaft, wer weiß trägt) und der Wahrheit beraubt, besser: des Durchblicks, wenn er keine Brille mehr trägt – und mehr dem Herzen als dem vertraut, was er sieht (zu sehen meint).
Katka Kurze ist Grande Dame, lustige Witwe, auch Hascherl, wenn’s drauf ankommt. Kommt ohne Liebe nicht aus, aber der Richtige liebt zu sehr. Sie spielt so eindringlich, dass jeder versteht, warum auch Célimène die Hauptfigur sein könnte, wie etwa Adolphe Adam es gewählt hat, als er den Stoff für eine Oper verarbeitete. Katka Kurze hat in Dresden Anfang des Jahrtausends große Erfolge gefeiert. Ist jetzt in Basel engagiert. Vielleicht will sie ja wieder zurückkommen in die Nähe ihrer Heimatstadt. Sie ist 1974 in Dresden geboren. Wäre ein Gewinn für Chemnitz.
Jan Gerrit Brüggemann musste keine Klimmzüge machen, um zu zeigen, was er kann (Sonderbeifall für seine turnerische Glanzleistung am Balkon, die man dem schmalen jungen Mann gar nicht zugetraut hätte. Aber Vorsicht: er ist auch Kickboxer). Er muss den Punchingball für Alcestes Wutboxwahrheitsattacken abgeben, und kriegt – einziger! – am Ende seine Kleine. Nur, da ist er besoffen, weil er nicht mehr auf‘s Glück hoffte. Und seine max unsexy Boxershorts machen ihn wieder zum Loser. Brüggemann, Jahrgang 1986, ist dieser Saison fest im Ensemble. Herzlich willkommen. Guter Einstieg!
Auch Pia-Mihaela Barucki, die Éliante, ist neu im Ensemble. Die 1990 in Berlin geborene Schauspielerin hat nicht nur, sondern sie macht auch eine gute Figur. Undankbar leise Rolle gegenüber all den Schreihälsen. Aber Fühlmädchen, lieb und gefühlswahr. Wir freuen uns auf weitere Auftritte.
Und da sind natürlich die „Alten“, deren Klasse wir kennen und lieben. Ulrike Euen, die pseudobigotte Verführerin Arsinoé, Christian Rut als schleimgoldglänzender Seichtdichter Oronte, Stefan Migge mit Ring im Ohr als WaskostetdieWelt-Acaste, Martin Valdeig, der so lauthals wie falsch ständig lachende Clitandre, und last but not least Wolfgang Adam. Spielt drei Rollen. Und steht am Schluss wie ein Fremder aus alter Zeit auf der neuen Bühnenwelt, der aber die Fäden gezogen hat – puderperrückt wie dermaleinst der große Molière höchst deroselben.
Schönes Spektakel. Großer Beifall. Guter Start in die neue Spielzeit. Kompliment an den Chef am Ruder und all die Yacht-Salon-Spezis aus dem Ensemble.
Nächste Vorstellungen: 8., 16., 25. Oktober