Sorry, wenn das Folgende nicht ganz leicht runterläuft. Kleist mutet dem Publikum einiges zu. Verlangt viel. Auch die Chemnitzer Aufführung vermeidet jede Weichwascherei.
Kleist selbst soll seine „Penthesilea“ als unspielbar bezeichnet haben. Das reizt Theatermacher. Am selben Abend hatte das „Trauerspiel“ Premiere in Bochum – und Michael Thalheimers Version (Premiere war im Dezember 2015 in Frankfurt) stand beim Hamburger Theaterfestival auf dem Programm.
Kleists „blutrauschendes“ (so heißt es mal im Text) Trauerspiel um die Amazonen-Königin Penthesilea, die sich der „Staatsraison“ widersetzt und liebt, wen ihr das Herz befiehlt, stellt Theatermacher von heute vor drei Probleme: es ist sehr lang (90 Seiten), es ist in Blankversen geschrieben, die sich jeder Alltags-Syntax entziehen („Penthesilea, hieß es,/Sei in den skytschen Wäldern aufgestanden,/Und führ ein Heer, bedeckt mit Schlangenhäuten,/Von Amazonen, heißer Kampflust voll,/ durch der Gebirge Windungen heran,/Den Priamus in Troja zu entsetzen“), und eigentlich passiert – nichts. Zumindest nicht auf der Bühne. Dort wird nur berichtet, wie draußen gekämpft, gemordet und gestorben wird/wurde.
Heißt erstens:
kürzen. Text und Figuren. Von Kleists neun Personen bleibt in Bochum nur eine übrig: Penthesilea. Thalheimer beschränkt sich auf drei, Johanna Schall in Chemnitz belässt es bei sechs. Das ergibt Sinn. Die Päpste der alten Ordnung, die Oberpriesterin der Diana und Odysseus, vertreten kompromisslos die falsche Richtigkeit ihrer jeweiligen Welt (Putin und Obama fallen mir ein), und Penthesilea und Achill haben jeweils einen Widerpart (Prothoë und Diomedes), der freundschaftlich verständig die andere Seele in der Brust verkörpert. Zwiegespräche statt ewiger Monologe. Betroffenes Verständnis statt einzelschicksalvergessener großer Worte (die kümmernden Flüchtlingshelfer am Bahnhof in Chemnitz fallen mir ein und der Obergrenzen-Bayer). –
Dabei verlässt sich Johanna Schall ganz auf Kleist. Der hat nicht „Penthesilea und Achill“ geschrieben (kein „Romeo und Julia“). Auch bei Penthesileas „Gegenspielerin“ „Kätchen von Heilbronn“ steht die Frau im Mittelpunkt: dort die Hingebende, hier die Zerfleischende. Das Duo Achill und (vor allem) Diomedes muss vor der brustrausreißbereiten Amazonengewalt zwangsläufig ungleichgewichtig zurückstehen. Schwachheit, Dein Name ist Mann. Vor allem, wenn er Schwachheit vorgeben muss, um zu gewinnen.
Der Text: Wer Figuren einspart, muss Text verteilen. Schall/Spindler haben das großartig gemacht. Grandios die Idee, die atavistische Erzählung vom Entstehen des Amazonen-Grundgesetzes von allen drei Frauen wie ein Glaubensbekenntnis, das Credo in der katholischen Liturgie, oder den von Kleist vielfach hier wie dort gesprochenen Fahneneid sprechen zu lassen. Bei Kleist spricht nur Penthesilea. Aber wie stark ist das hier gelungen – wenn alle sich noch der Form beugen, die am Ende die blutige Moritura über dem zerfleischten Achill als schale Wörter-Hülse entlarvt.
Zentralpunkt dieser Inszenierung. Thalheimer hat die Schlussszene an den Anfang gesetzt – dann die Rückerinnerung abgespielt. Das ist gewaltig Denken. Hervorholen. Schritt für Schritt. Johanna Schall macht das anders: Von der leisen Kampf-Getümmel-Scharade zu Beginn die Steigerung bis zum „Credo“ (im 15. Von 24. Auftritten) über das retardierende Moment („Du willst mir nicht nach Themiscyra folgen? – es könnte ja alles noch gut gehen) bis zum blutigen Schlusshöhepunkjt im rosig zukunftszertretenen Bodendreck (wie hatte Kleist gesagt?: „Der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele…“).
Dramatik pur. Da hätte es der kindlich nachgetanzten Belebung gar nicht bedurft. Die Macht der Ordnung zerbröckelt auch so. Napoleon ging unter, trotz glänzender Erfolge gestern und vorgestern. Wer wusste das besser als Heinrich von Kleist… Geschichte hilft uns nicht, heute zu leben und morgen zu überleben. Das Land der Griechen mit der Seele suchen – das konnte vielleicht Winckelmann. Penthesilea hat er nicht gemeint. Die klassizistischen Goldsäulen (Bühne: Horst Vogelsang) – mit Griechischen Säulen weder verwandt noch verschwägert – sangen nicht von Platon und Demokratie, sondern spiegelten talmi die Furien in Trump-Herzen und bösem Blutrausch.
Heißt zweitens und drittens:
Die Schauspieler müssen Könner sein. Nicht nur riesige Texte auswendig lernen, sondern sie auch rüberbringen. Sie müssen sprechen können. Einen der schwierigsten „klassischen“ deutschen Dramentexte. Und sie müssen spielen können, wo es zum Spielen fast nichts gibt.
Ohne jedes Vertun: Wir haben eine sagenhafte Sprache gehört – Blankverse in verständlicher Diktion. Von allen. Gelernt ist gelernt. Großes Kompliment. Katka Kurze (Penthesilea) kommt zunächst daher wie ein deutsches Gretchen. Wie sie sich entpuppt zur männermordenden, hundehetzenden, zerfleischenden Wahnsinnigen ist schlichtweg große Klasse. Maria Schubert gibt eine Prothoë (wie schreiben’s mit Threma [ë] für die, die noch nicht dabei waren), die in jeder Phase je nachdem zur Freundin, Beraterin, Warnerin mutiert, die – an der Mauer kauernd – bis in die Zehenspitzen sich ängstigt, wenn sie das Schreckliche unabwendbar naht. Susanne Stein ist die Wissende, die Fürchtende, die Suggestion par excellence. Wie sie leidet, wie sie fordert, wie sie groß wird und in sich zusammensackt – toll.
Die Männer: Zuvorderst Stefan Migge als Achill. Stark, schön, waffenstrotzend muss er der Schwächling werden, weil er nur dann geliebt werden wird. Als blutverschmiertes Fleischpaket noch im Schoß der irr gewordenen Geliebten zeigt er Kraft, ist nicht der blasstote unschuldige Pietà-Jüngling. Was für eine Wahnsinnsszene auf den ersten Augen-Blick und beim ersten Kuss… „Küsse, Bisse./Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,/ Kann schon das Eine für das Andre greifen“ – sinniert bei Kleist die Frau. Hier sagt es Migge. So ist er. Immer, auch sonst. Achill und herzdenkende Sehnsucht. Unser „Abenteurer“ Odysseus als Dardanaer-Mahner mit Hut und Stentor-Stimme (Verzeihung für den Gag: auch Stentor kämpfte laut Homer vor Troja) – Dirk Glodde, und der ungehörte Freund Diomed -Jan Gerrit Brüggemann: kleine Rollen. Wichtige Unterstreichung.
Noch ein Viertes käme dazu,
aber das hätte weniger mit der Aufführung als mit uns zu tun. Zu Kleist Zeiten wusste jeder halbwegs gebildete Bürger, wer die Danaer waren, die Peleiden und Nereiden. Und wenn Penthesilea „Dich, Ares, meines Hauses hohen Gründer“ anrief, wussten Goethe (der seinen Bewunderer Kleist nicht so sehr mochte) & Co. sofort Bescheid. Nur Mars durfte, so lesen wir, bestimmen, wen Penthesilea lieben durfte. Mars (römisch) = Ares (griechisch) = Vater von Penthesilea – der Vater sucht also aus, mit wem die Tochter ins Bett darf – kennen wir zwar. Aber diese Dimension der Auflehnung der Tochter gegen den Vater (er ist Gesetz) haben wir, wenn wir diesen Kleist sehen, nicht mehr automatisch drauf wie unsere Altvorderen zu dessen Zeit…
Muss kein Problem sein. Wir können ja alles googlen. Und haben morgen die Zusammenhänge wieder vergessen. Mythologie kommt in der Schule kaum mehr vor. Schwabs Sagen des klassischen Altertums sind vergessen. Odysseus ist bald nur noch Ulisses aus Star Wars. Und wer die beiden vorne neben dem Altar in Kirchen sind, der eine mit dem Schwert, der andere mit dem Schlüssel, weiß auch bald keiner mehr. Auch den Religionsunterricht wollen manche abschaffen. Peter und Paul werden es überleben.
Wie war das? Kleist mutet dem Publikum viel zu. Gut, dass uns die Theater Chemnitz diese „Penthesilea“ zugemutet (und zugetraut) haben.
Die nächsten Vorstellungen: 27. Oktober, 12., 24. November 2016