Das war das Konzert des Jahres

Es muss ja auch Vorteile haben, wenn man GMD ist. Generalmusikdirektor Frank Beermann schneiderte sich ein Programm auf den Leib. Er griff in die Vollen bei Mahler, den er sehr mag (die 7. Sinfonie kommt noch, im Aprilkonzert 2015). Dessen erste Sinfonie („Titan“), eine einstündige Prachtwumme mit fast 100 Mann im Orchester, allein sieben Hörner, acht Pauken… Die 100 Musiker muss man erst mal haben. Noch hat die Robert-Schumann-Philharmonie die Power, Mahler zu spielen. Hoffentlich trotz allen Sparrunden noch lange. Morgen ist für Beermann nicht mehr ganz so interessant. 2016 geht er ja aus Chemnitz weg. So packt er jetzt zu. Schön für das Orchester, schön für ihn. Und schön für ein begeistertes Publikum, das diese Philharmonie nicht missen will. Besser als mit Mahler konnten Beermann und die Robert-Schumann-Philharmonie nicht beweisen, dass Chemnitz ein groß(artiges) Orchester hat und es weiterhin braucht.

Musikwissenschaftler haben die Sinfonie rauf und runter analysiert. Machen wir hier nicht. Die erste Sinfonie von Mahler, die so harmlos volksliedhaft anfängt (Lieder eines fahrenden Gesellen) mit vogelzwitscherndem Natur-Grundrauschen und sich entwickelt – wie meist – zu einem Finale, das hymnisch himmelwärts strebt, wird heute relativ oft gespielt – von den großen Welt-Orchestern, den Wienern (legendär die Bernstein-Aufnahme) oder den Berlinern (auch Rattle kommt wie kein Großer an Mahler vorbei). Aufführungen in Städten von der Größenordnung Chemnitz sind eine Ausnahme. Gut, dass wir das erleben dürfen.

Mahler verlangt eine Riesenbesetzung: geballtes Blech mit sieben Hörnern, fünf Trompeten, vier Posaunen, Basstuba, 15 Holzbläser, großes Schlagwerk (acht Pauken, große Trommeln, Gong, Becken…). Da müssen‘s schon mal 60 Streicher sein, dass sie der geballten Kraft einigermaßen Paroli bieten können. Eine solche Besetzung kann selbst ein Orchester wie die Robert-Schumann-Philharmonie nicht vorhalten. Da braucht’s (in der Grippezeit erst recht) Aushilfen. Aus Dresden, aus Leipzig. Die kommen gern nach Chemnitz, weil hier richtig und gut gearbeitet wird, weil man nicht automatisch für staatliche Füllhörner gesetzt ist. Und weil es hier so viele Musiker gibt, die ihren Beruf und das Orchester lieben. Und immer ihr Bestes geben wollen. Wie die Englischhornistin.

Mahler, dieser verrückte Draufgänger, der selbst auf potenziell karrierenzerstörende Kritikerpäpste wie Eduard Hanslick pfiff, komponierte nicht nur aus der Romantik in die neue Zeit, die Hanslick nicht verstehen wollte, sondern lotete dem Klang zuliebe ganz banal auch die tiefstmöglichen Tiefen und die höchstmöglichen Höhen aus. So braucht er gleich zwei Piccolo-Flöten – und schreibt für das Englischhorn Töne, die es – weil so tief – auf dem Instrument gar nicht gibt. Der Versuch ist nicht strafbar, wird er sich gedacht haben und vermerkt in der Partitur: wenn kein geeignetes Instrument verfügbar, solle man die Töne einfach weglassen. Zwei sind’s. Ganze zwei. Claudia Schönes Ehrgeiz aber war gepackt. Sie kaufte eine Verlängerung, ließ das Instrument umbauen. Und Mahlers Töne waren komplett. So sind unsere Chemnitzer Musiker. Dafür lieben wir sie.

Beermann weiß, wie man Effekte rauskitzelt, erst recht bei Mahler. Er lässt die (fernen) Trompeten im ersten Satz draußen vor der Tür spielen (was den Nebeneffekt hatte, dass für die Kamera die Orgel geöffnet wurde – toller, prächtiger Anblick, sollte man wegen der Optik öfter machen), lässt die Hörner jägern (gelingt meistens großartig, aber bei sieben Glücksspiralen kann man nicht immer Glück haben), er lässt die Trompeten ihre Höhenjuchzer jubilieren, die Celli gemeinsam volkstümliche Glissandi exerzieren und die Kontrabässe vereint das zarte Thema einführen, das anderswo einem Solisten anvertraut wird.

Beermann geht mit den geballten Ladungen der Stimmgruppen aber sehr gezielt um – vermeidet damit jeden Romantikbrei. Die einzelnen Zutaten bleiben auch im Superfortissimotutti erkennbar. Den Moll-Bruder Jacques und die anderen Mitsumm-Melodien dirigiert er nicht schmachtend langsam, sondern recht flott. Unsentimental. Weil Mahler über die Romantik hinausweist. Und Jean Paul, dessen 900-Seiten-Wälzer zwischenzeitlich den Nebentitel für die Sinfonie gab, ja auch kein taugenichtsscher Eichendorff-Novellist ist… Beermann treibt das so weit, dass am Ende funkelnde Pracht flasht und sich nicht Hymnenseligkeit hinbräst. Hat was.

Mit Matthias Kirschnereit hat sich Beermann einen weiteren Gewinn-Garanten ins Programm geholt. Mit ihm und den Bamberger Symphonikern hat er schon alle Klavierkonzerte von Mozart auf CD eingespielt. Und mit dem e-Moll-Klavierkonzert (jener aus dem Violinkonzert transkribierten Fassung, die verloren schien) und der Robert-Schumann-Philharmonie sogar einen Echo-Klassik geholt. Man kennt sich. Das ist zu spüren. Denn Kirschnereit phrasiert nicht gerade wie immer gehört. Macht kleine Vorhalte, die das Orchester mitatmend mitgeht.

Aber auch hier: Kein Nachgeben in der Musikalität. Beermann verzichtet auf den Taktstock – als ob er Gesang dirigierte, einen Chor. So kommen die wunderbaren Melodien des G-Dur-Konzerts ebenso rüber, wie die ungewohnten Harmonien, deretwegen E.T.A. Hoffmann (nicht nur Bamberger Rauchbierfreund, potenzieller Ideenlieferant für Mahlers Erste und Novellist, sondern auch begabter Musiker und Komponist) dieses Konzert wegweisend in Richtung Schubert und Romantik einstufte. Dieser Mozart macht es den Musikern eh nicht leicht (und das vor dem Gipfelanstieg mit Mahler). Wenn man nur an die Tonartenrutsche denkt, die hinführt aus zu Gis-Dur, einer äußerst selten gebrauchten Tonart, die acht (!) Kreuze hat und so ungewohnte Töne wie his und fisis vorschreibt. Was nicht anders klingt (zumindest auf dem Klavier) wie c und g. Aber Mozart war immer auch „ein lieber, loser Schalk“. So wie der Star, der drei Jahre im Haus Mozart zwitschern durfte. Weil er die Melodie des dritten Satzes aus diesem Konzert annähernd richtig pfeifen konnte, verschaffte ihm Mozart ein „Staatsbegräbnis“ im Garten und dichtete dazu:  „Hier ruht ein lieber Narr/ ein Vogel Staar./ Noch in den beßten Jahren/musst er erfahren/ des Todes bittern Schmerz./ Mir but’t das Herz/wenn ich daran gedenke…Denn wie er unvermuthet/sich hat verblutet/dacht er nicht an den Mann/der so schön reimen kann“… So kennen wir unseren Mozart. Und Kirschnereit hat auch den Schalk in den Fingern. Er spielte als Zugabe den „Türkischen Marsch“, so wie das Publikum seinen Mozart mag (und nicht wie Lang-Lang zwei Stunden später bei der Bambi-Verleihung, der zeigte, wie schnell man diesen Ohrwurm rasseln lassen kann).

Die Manfred-Ouvertüre des Namenspatrons der Philharmonie stand am Beginn des Konzerts – Beermann holte im dritten Konzert nach, was seit seinem Amtsantritt nicht mehr Usus ist – im ersten Sinfoniekonzert einen Schumann zu Beginn. Nicht der leichteste Einstieg ins Programm – weder musikalisch noch technisch. Kleine Wackler aus Übermotivation? Oder lässiger, weil die Galgen der MDR-Mikrofone nicht bedrohlich über den Musikern drohten?

Ein großartiges Konzert. Das Konzert des Jahres in der Tat. Wir hören bei mdr-Figaro bestimmt noch mal rein: am Dienstag, am Tag vor Buß- und Bettag, 20.05 Uhr. Und sei es, weil wir das Mittwoch-Konzert verpasst haben. Und so auch das Double schaffen…