Das Leben kann so schön sein

Ja, verrückt. „Verrückt“ seien er und seine Band Kolsimcha, hatte Olivier Truan, Komponist und „Klavierspieler“, angekündigt. „Und nun spielen wir mit der Robert-Schumann-Philharmonie – das sind auch Verrückte“, meinte der Bandleader von Kolsimcha in anhochgedeutschtem Schwyzerdütsch. „Wir Schweizer sind blöd“, kommentierte er die Fremdenabstimmung daheim, und „Eure Stadträte  haben keine Ahnung, was für ein großartiges Orchester Ihr habt“…

Fast wäre ihm statt Robert Schumann-…  Olaf Schubert-… („ich liebe ihn“) raus- und er darauf ausgerutscht  – da fing sich der moderierende Chef gerade noch, grinste, wie er da wieder sich und die Zuhörer auf die Schippe genommen hatte, setzte sich ans Klavier, improvisierte ein paar leise Akkorde, und die Welt hatte sich plötzlich verändert. Das Publikum, eben noch lauthals lachend, saß da, still gebannt von ein paar lyrischen Tönen.  

Das ist das Geheimnis von Kolsimcha (jüdisch für „Stimme der Freude“, ein Hochzeitssegen) – die fünf Musiker des „World Quintet“, wie sie sich nennen, spielen virtuos mit den Gefühlen – sie jauchzen himmelhoch („Balkan Hora“) und können zu Tode betrübt sein („Elegy for a friend“), sie können sich auf die Schippe nehmen und ausgelassen sein bis zum Ulk („Autostrada“), und sie können sich gedankenvoll sehnend in die stille Ecke zurückziehen  („Jerusalem“).

Freude und Tränen zu malen versuchen viele, Filmkomponisten zumal. Aber deren Ergüsse schmecken meist wie Tütensuppe. Bei Kolsimcha ist alles handmade, feinst geschnitztes Gemüse in einer wunderbaren Brühe aus bestem Fleisch. Die Jungs haben es musikalisch und technisch geradezu unheimlich drauf. Da jauchzt und jammert Michael Heitzler auf seiner Klarinette, haucht und hustet Roman Glaser mit seiner Flöte. Und beide zusammen spielen taktelange Unisono-Passagen mit schwierigsten Phrasen, wie das nur absolute Profis können, und die nicht immer. Olivier Truan traktiert sein Klavier wenn’s sein muss mit dem Ellenbogen und haut spielerisch zwischendrin mal kurz den Klavierdeckel zu. Und dann gibt er, sich ganz zurückziehend einen Rhythmus vor, dem Schlagzeuger Christoph Staudenmann und Daniel Fricker am Bass in einem Drive folgen, der zum Wettbewerb um das letzte tausendstel Sekunde reizt, in der das Vorwärtsdrängen noch im Takt bleibt. Schwer für Zuhörer, da auf den vier Buchstaben sitzen zu bleiben…

Die Kolsimchas haben eben in den Abbey-Road-Studios in London (in den heiligen Hallen der Beatles) das Programm aufgenommen, das sie jetzt in Chemnitz erstmals vor Publikum uraufführten. Mit dabei das London Symphonic Orchestra,  eines der weltweit besten Orchester für cross-over-Produktionen. Die Jungs hatten, Videos beweisen es, schwer zu schuften. Würde das mit der Robert-Schumann-Philharmonie auch hinhauen?

Und wie. Olivier Truan ist ein schlauer Fuchs. Auch was die Vermarktung angeht. Die Chemnitzer Musiker hatte er vor drei Jahren schon kennen gelernt. Er wusste, mit denen kann er vom Studio raus in den Konzertsaal.  Im Studio kann man, wenn’s nicht ganz so klappt, tausendmal nachspielen und schneiden. Im Konzertsaal muss alles sitzen. Jetzt also Probe auf’s Exempel.

Mit einem hatte Olivier Truan nicht gerechnet. Da stand ihm ein junger Mann als Chef gegenüber, der 1986, in dem Jahr, in dem Kolsimcha gegründet wurde, erst geboren wurde. Ob das gut gehen würde? Die Kolsimchas spielen nur eigene Stücke. Eines ist dabei, das hat den Teufel in sich, rhythmisch. „Dance in Eleven“, heißt es. Nix mit dreiviertel- oder vierviertel-Takt, in dem (angeblich) rumänischen Tanzrhythmus gibt es ständig wechselnde vertrackte Verschiebungen, die aus ungeraden und geraden Takteinheiten schließlich aus elf eine hörbare Einheit machen müssen.

Es war eine der rührendsten Szenen des ganzen Abends, wie sich nach dem „Elfer“ die beiden Protagonisten abklatschten, lachend sich in den Armen lagen, als hätten sie gerade alle unmöglichen Kurven optimal genommen und die Goldmedaille im Doppelsitzer gewonnen. Felix Bender, der erste Kapellmeister der Robert-Schumann-Philharmonie hat nach seinem Mozart („Don Giovanni“) und Strauß (Opernball) noch einen draufgesetzt: Locker, als sei es die einfachste Sache der Welt, bewegte er das Orchester samt Band souverän durch die heikelsten Harakiri-Passagen.

Und noch eine Szene bleibt im Gedächtnis hängen. Olivier Truan verlangt vom Sinfonieorchester und dessen Musikern genauso viel wie von den eigenen Musikern. Heißt: höchste Konzentration, höchste Virtuosität auch an schwierigsten Stellen. Erst recht galt das natürlich für die Soloparts, in denen die Band (weil nicht vorhanden) auf zum Beispiel die Tuba oder die Bratsche zurückgreifen will. Oder auf die Geige.

Wir wissen von Hartmut Schill, dass er Wagner genauso gern spielt wie Wieniawski, und (wenn’s sein muss) Krenek wie Kreisler. Aber was er da an Noten von Truan auf’s Pult gelegt bekam, das war schon was zum Üben… Und offen lag das alles, dieser Hund Truan lässt da (komponiert) improvisieren wie jeden seiner Musiker beim Solo. Schon während des Spiels dreht Truan sich anerkennend (hör ich recht?) vom Klavierhocker um zu Schill, der hinter ihm schwerstarbeitet, hinterher windet er voll Hochachtung dem Konzertmeister verbal den Lorbeerkranz – und der tausendmal als Solist erfahrene Schill kriegt ob des Lobs einen roten Kopf wie ein Schuljunge. Dabei hat er jedes Quäntchen Lob verdient.

Wie das ganze Orchester. Da wurde Unspielbares spielbar gemacht (und wilde Streicherjagden zu einem glücklich pünktlichen Ende gebracht), da wurden im Pool Flageolet-Teppiche aus feinster Tonseide gewebt, da musste das Blech sich so untereinander rhythmisch reiben, dass Zählen schon fast unmöglich war (sie haben es erfühlt und erjagt…) – quer durch alle Stimmgruppen: so leicht das alles klang, so fröhlich, so getupft hie, so gewummt da – dieser „leichte“ Abend im Rahmen der Sinfoniekonzerte war alles andere als leicht zu spielen. Hut ab, und großes Kompliment vor der Robert-Schumann-Philharmonie.

Die grauen Haare waren am Donnerstag in der Minderheit. So viele junge Leute waren da. Sie tobten vor Begeisterung beim „Kolsimcha-Solo“, das Olivier Truan nach hinten zu den Zugaben geschoben hatte, „weil dann die Stadträte schon weg sind, damit sie die Straßenbahn noch rechtzeitig erreichen“. Das war ein Trugschluss. Sie waren gar nicht da.*

* Falls wir einen übersehen haben, bitten wir schon jetzt um Entschuldigung